VfB-Fans nach dem Pokalfinale 2013 gegen die Bayern (2:3): Glaubens-Bekenntnis Foto: Baumann

Hört das denn nie auf? Seit Jahren stemmt sich der VfB Stuttgart gegen den sportlichen Niedergang. Kein Ruhmesblatt für eine Region, die wirtschaftlich in der Champions League spielt. Aber wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Ein Streifzug durch aktuelle Befindlichkeiten.

Stuttgart - Es ist ja nicht so, dass es in Stuttgart nichts zu bereden gäbe. Die grün-schwarze Landesregierung kommt ins Spiel, der Stress mit Stuttgart 21 wird immer mal wieder eingewechselt, und als Winterneuzugang präsentiert sich dem Publikum mit bundesweiter Beachtung: Feinstaubalarm. Furchteinflößende Kurdendemos erfordern eilige Dribblings durch die Innenstadt, und wer einen Parkplatz findet, der noch ohne Kredit zu finanzieren ist, darf sich Glückspilz nennen.

Nun stürmt seit Tagen wieder der VfB Stuttgart an die Spitze der Diskussionstabellen in Kneipen und Kantinen. Was verständlich ist, weil die sportliche Situation des Aushängeschilds immer auch korreliert mit dem Selbstverständnis und Wohlfühlfaktor von Stadt und Region. Da der Verein für Bewegungsspiele 1893 aber schon seit Jahren seine Runden durch die Abstiegszone dreht, steigt der Grad der Entsolidarisierung mit jeder Saison, die mit tiefen Enttäuschungen endet. Ein Abstieg gilt als grobes Foul am Stolz von Stadt und Region – begleitet vom wachsenden Unverständnis derer, die mit ihren Teams längst schon in der Königsklasse europäischer Unternehmen spielen: bei Bosch, Daimler, Stihl, Trumpf, Kärcher oder Porsche. Mit Leidenschaft, Ideenreichtum und unternehmerischem Mut als selbstverständlichen Bestandteilen von Strategie und Taktik.

Image fördernde Wirkung

„Warum kriegt der VfB nicht hin, was Stadt und Region in wirtschaftlicher Hinsicht vormachen?“, fragt beispielsweise der frühere Daimler-Sprecher Matthias Kleinert. Und im nächsten Atemzug fügt das VfB-Ehrenmitglied hinzu: „Diese Region braucht doch einen starken Fußball-Bundesligisten.“ Kein Widerspruch. Zwar sind die Arbeitseffekte der VfB-Rasenfachkräfte nicht in jedem Fall messbar, aber die Image fördernde Wirkung ist unbestritten. „Erfolge eines Bundesligavereins tragen zum Image und zur persönlichen Identifikation einer Region bei, was bei der Gewinnung von Fachkräften für die Wirtschaft eine große Rolle spielt“, versichert Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart. Der Fachmann pflegt vom weichen Standortfaktor zu sprechen. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob künftige Mitarbeiter in der Mercedes-Benz-Arena den VfB Stuttgart gegen das Starensemble des FC Bayern München unterstützen oder im Duell gegen die Namenlosen des SV Sandhausen.

„Wenn der VfB absteigt, fehlt ein wichtiges Instrument des Standort-Marketing“, bekräftigt André Bühler, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen, in jeder Bundesliga-Spielzeit aufs Neue. „Die Personalabteilungen der Firmen in der Region müssen ein Interesse daran haben, dass der VfB in der Bundesliga bleibt“, sagt der Direktor des Deutschen Instituts für Sportmarketing. Im Werben um die Spitzenkräfte eines globalisierten Markts ist es für den 1-a-Wirtschaftsstandort ein dickes Plus, wenn im Verbund mit Freizeitangeboten, schulischen Möglichkeiten, Kunst, Kultur und Museen auch ein Fußball-Bundesligist zum Ball bittet.

Volle Stadt bei Heimspielen

Stuttgarts Touristikchef Armin Dellnitz mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Sport-Emissäre in Weiß und Rot weiter so jämmerlich kicken wie im Schlüsselduell gegen Bremen. Der Geschäftsführer von Stuttgart-Marketing zitiert Untersuchungen aus anderen Städten mit abstiegsbedrohten Bundesligisten, die zum immer gleichen Ergebnis gelangen. „Ein Erstligist ist ein starker Botschafter, der den Namen der Stadt mit dem Sport verbindet und für Sympathien sorgt. Dieser starke Markenbotschafter wäre bei einem Abstieg geschwächt.“ Diesen Wert könne man zwar in Zahlen nicht beziffern, einen zweiten Effekt allerdings schon: „Bei den Heimspielen ist die Stadt voll. Es kommen viele Übernachtungs- und Tagesgäste, die nicht nur eine besondere Atmosphäre schaffen, sondern auch Geld ausgeben“, sagt Dellnitz. „Diese Wertschöpfung würde vermutlich beeinflusst, der wirtschaftliche Nutzen gemindert.“

Ein Erkenntnisgewinn, der auch den Oberbürgermeister, selbst eigentlich Fan des FC Bayern, zum verbalen Steilpass ermutigt. „Der VfB ist ein Imageträger der Stadt“, sagt Fritz Kuhn, „deshalb wäre es herb, wenn er nicht mehr in der Bundesliga mitspielen würde. Es sind noch sechs Punkte zu holen. Ich drücke dem Team die Daumen, jetzt das Ruder noch rumzureißen.“ Was auch in manch anderer Hinsicht ein Segen wäre.

Ein Abstieg würde auch die sportlichen Triebkräfte dauerhaft beschädigen. „Der Abstieg wäre schlimm“, seufzt Uli Derad, Hauptgeschäftsführer des Landessportverbands Baden-Württemberg (LSV). „Der VfB Stuttgart ist das Aushängeschild des Spitzensports in der Region. Er hält den Sport ganz generell im Gespräch. Das strahlt auch aus auf andere Sportarten und auf deren Nachwuchsarbeit“, ist der frühere Handball-Nationalspieler sicher.

Kein Vergleich mit 1975

Der ehemalige Torhüter Helmut Roleder, mit dem VfB Stuttgart 1975 ab- und zwei Jahre danach wieder aufgestiegen, warnt intensiv vor den Folgen der Zweitklassigkeit. „Die Zeiten haben sich gegenüber dem Abstieg vor 41 Jahren radikal geändert. Damals standen 17 000 Enttäuschte in der Kurve und haben gepfiffen. Die Aufregung in der Öffentlichkeit war überschaubar. Heute sind es 53 000 Zuschauer bei jedem Spiel. Die aktuelle Situation wird in der Öffentlichkeit sehr viel kritischer wahrgenommen. Es ist auch nicht mehr so einfach, wieder aufzusteigen.“ In den vergangenen Jahren sei sehr viel schiefgelaufen, kritisiert der ehemalige Klasse-Torhüter, „gerade auch in der Nachwuchsarbeit.“ Auch Heinz Bandke, ehemals Verwaltungsbeirat beim VfB Stuttgart, weist auf die veränderten Dimensionen hin. „1975 hatte der VfB maximal zehn Mitarbeiter.“ Heute macht das Cannstatter Fußball-Unternehmen mit 120 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von rund 100 Millionen Euro. Bei jedem Heimspiel in der Mercedes-Benz-Arena beschäftigt der VfB 2300 Menschen. Von der Hostess in der Sponsoren-Lounge über den Sanitäter bis hin zum Ordner am Stadioneingang. 30 Millionen Euro überweist der Club jährlich an Lohnsteuer, 20 Millionen Euro fließen ab durch Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftsteuer, eine Million Euro geht als Beitrag für die Nahverkehr-Tickets an den Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS). Auf jährlich 50 Millionen Euro schätzen Experten den Werbewert für Stuttgart und die Region durch Nennungen in allen Arten von Medien.

Der Abstieg würde ein Loch von rund 35 Millionen Euro in den Etat reißen. Den Lizenzspieler-Etat müssten die Club-Bosse von jetzt 43 Millionen Euro auf 20 bis 25 Millionen Euro kürzen. Im Gespräch ist außerdem, die Gehälter der VfB-Mitarbeiter um zehn Prozent einzudampfen. Sollte der Wiederaufstieg nicht in ein, zwei Jahren gelingen, sind selbst Stellenkürzungen nicht auszuschließen.

Immerhin bewahrt die auf 40 Jahre angelegte Partnerschaft zwischen VfB und Stadt Stuttgart, in eine Stadiongesellschaft gegossen, den Steuerzahler ein, zwei Jahre nach einem Abstieg vor einem Zuschussgeschäft für die Mercedes-Benz-Arena. Danach müssten sich beide Seiten wohl auf geringere Tilgungsraten für die von der Stadt gewährten Kredite einigen. Rund zehn Millionen Euro bringt der VfB jährlich für den Betrieb des Stadions und für die Refinanzierung der Umbaukosten (60 Millionen Euro) auf. Davon fließen 5,2 Millionen Euro an die Stadt. 14,3 Millionen strömen durch die Eigenvermarktung der Arena in die VfB-Kasse zurück.

Stuttgart ohne VfB? Kein Problem!

Der wirtschaftliche Schaden eines Abstiegs hält sich in Grenzen – Image, Wir-Gefühl und Wohlfühlfaktor dagegen würden leiden. Ein Umstand allerdings, um den sich der Architekt und Querdenker Johannes Milla eher wenig sorgt. Er ist seit 1971 Gladbach-Fan. Was ein Abstieg für Stuttgart bedeuten würde? „Die schlechte Nachricht für den VfB ist: Er ist längst schon abgestiegen, spätestens seit 1998. Denn das Stuttgart-Gefühl nach Innen und das Image nach Außen wird seit vielen Jahren von ganz anderen Faktoren bestimmt“, glaubt Milla. Er nennt „das südliche Lebensgefühl, die sieben Hügel der Stadt, viele und gute Arbeitsplätze, Museen, Feinstaub, Pop seit Fanta 4 bis Cro, Theo, Grüne Mehrheiten, der schwarze Donnerstag, OB Rommel und Toleranz, die Weinberge, das Neue Schloss, die beste Oper Deutschlands, Internationale Bevölkerung, Marienplatz und die Kreativszene“. Er folgert: „Die positiven Faktoren Stuttgarts sind stark, auch in ihrer bundesweiten und internationalen Ausstrahlung. Die gute Nachricht für Stuttgart ist daher: Stuttgart braucht den VfB nicht. Egal, in welcher Liga. Denn Stuttgart spielt längst in der Champions League.“

So oder so. Zwei Spieltage vor Saisonschluss hoffen Stadt und Region mehrheitlich noch immer auf ein gutes Ende. Denn das Gefühl ist: Die Bundesliga ohne den VfB wäre ein bisschen wie Stuttgart ohne den Fernsehturm. Einfach schade.