Marlene Bitzer kauft gern schöne Schuhe und Kleider ein, Bernd Bitzer bezahlt alles mit seiner Kreditkarte. ­Die beiden sind jedoch kein Ehepaar, sondern ein und dieselbe Person. Foto: Peter-Michael Petsch

Bernd Bitzer verwandelt sich gern in die Frau Marlene – Doch aus seinen Körper möchte er nicht raus.

Stuttgart - Der doppelte Cappuccino kommt. Der erste Löffel Zucker landet auf dem Milchschaum, dann der zweite, der dritte. Bei 15 ist Schluss. Die Hand mit den langen knallroten Fingernägeln rührt in dem Gebräu. Eine Bewegung, wie wenn man sich durch Honig arbeitet. Die Hand legt den Löffel beiseite und führt die Tasse an den Mund. Der von einem Dreitagebart umrahmt ist. „Ferraris sind völlig überbewertet“, diesen Satz formen die Lippen. „Wenn man Mädchen kennenlernen möchte, sind diese Nägel das beste Gesprächsthema.“

Bernd Bitzer lächelt. Er ist groß und stattlich, die Haare trägt er kurz geschoren, dazu den Dreitagebart. Seine Bewegungen – wenn er nicht gerade lustvoll im Zuckerwasser rührt – sind kraftvoll und kantig. Ein echter Kerl. Ein durch und durch männlicher Mann. Im ersten Moment weiß man nicht, was einen irritiert an diesem Menschen. Man sieht es, aber man sieht es doch nicht. „Unser Hirn rechnet Dinge, die es nicht begreift, einfach weg“, sagt der 55-Jährige. Und wenn man Bitzer anblickt, rechnet das Hirn seine ferrariroten langen Fingernägel weg.

Obwohl er sie keineswegs versteckt. Er zeigt gern, was er hat. Auch, wenn er wie jetzt, seine Beine locker übereinanderschlägt und sich zurücklehnt. Die Beine sind lang. Unverschämt lang. „Einen Meter 16 messen sie – damit habe ich sechs Zentimeter mehr als Nadja Auermann“, sagt Bitzer.

Bis vor einem Jahr versteckte Bernd Bitzer Marlene

Aber Vorsicht, nicht stolpern: Bitzer ist weder ein Transvestit noch ein Transsexueller noch ein Hermaphrodit. Er passt in keine Schublade. Obwohl die doch so bequem sind. „Man denke sich einen Forscher, der die bunte Vielfalt an Schmetterlingen einfangen und aufspießen will“, sagt Bitzer. „Dann hat er sie endlich alle beisammen – und schwups komme ich zum Fenster reingeflattert und bringe alles durcheinander.“

Bis vor rund einem Jahr war Bitzer allerdings eher ein Nachtfalter denn ein Schmetterling. Bis dahin versteckte er, dass es nicht nur Bernd Bitzer gibt. Sondern auch eine Marlene Bitzer. Er versteckte, dass er sich zugleich als Mann und Frau fühlt. Die Frau allerdings durfte sich lange Zeit nur am Wochenende und nachts zeigen. Heimlich.

Bitzer nippt am Cappuccino. „Dabei habe ich bereits mit sechs Jahren gemerkt, dass ich anders bin“, sagt er. Damals kam ein Kunde ins Malergeschäft seines Vaters auf der Schwäbischen Alb, strich Bernd Bitzer über seine Locken, und sagte: „Das ist aber ein schönes Mädchen“. „Ich wollte brüllen: ‚Ich bin kein Mädchen‘. Aber ich habe kein Wort rausbekommen, denn eine Stimme in mir fragte: ‚Bist Du sicher?‘“

Nach dem Abitur ging er zur Bundeswehr, dann zog er zum Studieren nach Stuttgart. Betriebswirtschaft hatte er sich ausgeguckt, „Ich sah mich ein Köfferchen tragen, eine Firma leiten, ich wollte einen Mercedes, ein Haus und eine Familie.“ Er merkte allerdings schnell, dass BWL nichts für ihn war. Stattdessen entschloss er sich, Journalist zu werden. Zur gleichen Zeit lernte er „diese blonde, große Frau kennen, die sich bewegte, als wenn sie sich durch Honig arbeite“. Nur: Sie war keine Frau. „Das war meine erste Transsexuelle“, sagt Bitzer. Eine Frau, die als Mann geboren wurde. Sie war die erste, die er alles fragen konnte. Und er merkte schnell, dass er sich wesentlich von der Transsexuellen unterschied: „Ich wollte – anders als sie – nicht aus meinem Körper raus. Ich fand mich als Mann ganz okay.“

„Bernd ist heterosexuell veranlagt – und Marlene „so was von homosexuell“

Er lebte seine weibliche Seite anders aus. Seiner damaligen Freundin Susanne hatte er sich anvertraut, sie half ihm erstmals, sich als Frau zurecht zu machen. An den Wochenenden traten sie als Paar zusammen in der Öffentlichkeit auf. Bernd ist heterosexuell veranlagt – und Marlene „so was von homosexuell“, wie Bitzer sagt. „Doch Marlene ist so schön geworden, dass sie von Susanne als Konkurrenz wahrgenommen wurde“, sagt Bitzer. Die Beziehung ging auseinander.

Bitzer wirft einen Blick über seine Schulter. Hinter ihm steht auf dem Bürgersteig ein überlebensgroßes Poster von Marlene im knallroten Kleid. Bitzer hat es für das Foto mitgebracht – und stehen lassen. Die Blicke der Passanten, die erst auf das Poster, dann auf ihn fallen, stören ihn nicht. Auch nicht die der beiden Männer, die anerkennend mit der Zunge schnalzen – und die erst etwas zu ahnen scheinen, als Bitzer sie charmant anlacht – mit dem gleichen Lachen, das Marlene auf dem Poster auf im Gesicht steht.

„Marlene ist immer dabei, aber manchmal tritt sie in den Vordergrund – ohne dass ich in Frauenkleider schlüpfe“

Überhaupt, dieses Lachen. Das nicht so recht zu einem Mann passen will. Zu hoch. Zu verspielt. Zu albern. Sitzt da nun Marlene? „Marlene ist immer dabei, aber manchmal tritt sie in den Vordergrund – ohne dass ich in Frauenkleider schlüpfe“, bestätigt Bitzer. Anders als ein Transvestit braucht er die äußerliche Verwandlung nicht.

Inzwischen kann er meist steuern, wer das Kommando übernimmt. „Meine Freundin Henriett sagt gern, wenn wir im Auto sitzen: ‚Es wäre nett, wenn Marlene übernimmt’“, sagt Bitzer. Marlene ist weitaus bedächtiger am Steuer, sie „kann aber genauso gut einparken“, sagt der Journalist und IT-Spezialist.

17 Jahre war Bitzer verheiratet, danach lernte er Natalie kennen. Durch sie schaffte er es, sich nach 35 Jahren Doppelleben zu offenbaren. Sogar ein Buch hat Bitzer inzwischen darüber geschrieben. Vor seiner Mutter outete sich Bitzer an Weihnachten, „denn das ist die Zeit der Überraschungen“. Demonstrativ legte er damals seine mit einer French Maniküre versehenen Hände auf den Tisch. Bis seine Mutter nach drei Stunden sagte: „An einem Mann gefällt mir das aber nicht.“ „Was gibt dir das zu denken?“, fragte Bitzer – daraus entspann sich eine lange und tiefe Unterhaltung. Ja, wenn man Mädchen kennenlernen möchte, sind die Nägel gut – aber manchmal auch, wenn sich Mutter und Kind kennenlernen möchten. Bei der 74-Jährigen stehen nun übrigens zwei Fotos auf dem Nachttisch: Bernd und Marlene.

Marlene und Bernd Bitzer: Girls Game. Gatzanis, 144 Seiten, 25,95 Euro. www.girlsgame.tv