Der neue Unicef-Report alarmiert mit erschreckenden Zahlen. Foto: dpa

Rund 230 Millionen Kinder weltweit leben laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen in Kriegs- und Krisengebieten – mit fatalen Folgen.

Berlin - Niclas Hammarström hat das Grauen gesehen. In schockierenden Bildern hat es der schwedische Fotograf festgehalten. Im neuen Unicef-Report „Kinder zwischen den Fronten“ berichtet er von seinen Erlebnissen in Syrien: „Eines Abends, in einem kleinen Lazarett, trugen ein paar Männer einen kleinen Jungen herein, zusammen mit einigen anderen Verletzten. Der Junge hatte schwere Verbrennungen und stand unter Schock. Die Ärzte legten ihn auf ein Bett, aber sie mussten sich erst um andere noch schwerer Verletzte kümmern. Also ließen sie ihn allein dort liegen. In dem Krankenhaus war es sehr kalt, und der Junge hatte keine Decke.“

So wie er wuchsen 2014 nach Schätzung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) rund 230 Millionen Kinder weltweit in Kriegs- und Krisenregionen auf. Dabei ist die Not in Syrien, im Irak oder im Südsudan besonders groß. Die Kinder sind laut Unicef schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt: Sie werden gezielt entführt, sexuell versklavt, hingerichtet, gefoltert oder als Soldaten und Selbstmordattentäter missbraucht. „Ihr Alltag ist von Gewalt und Hass geprägt – oft über Jahre“, heißt es im Report.

„Ganze Generationen drohen verloren zu gehen“, warnt der Vorsitzende von Unicef Deutschland, Jürgen Heraeus. Denn in Krieg und Gewalt aufzuwachsen hat weitreichende Folgen: „Das Gehirn entwickelt sich anders. Es adaptiert sich an eine gewaltbereite Umwelt“, erklärt Thomas Elbert, Professor für Klinische Psychologie und Neuropsychologie der Universität Konstanz. Die betroffenen Kinder lebten dauernd in Bedrohung und entwickelten eine ständige Aufmerksamkeit, um auf Gefahr rasch zu reagieren. „Das raubt Ressourcen im Arbeitsgedächtnis“, sagt Elbert, was wiederum die schulische Leistungsfähigkeit beeinträchtige. Das Risiko einer Depression, Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung steige. „Wenn diese Menschen später in Friedenszeiten Frustrationen erleben, greifen sie eher auf Gewalt zurück.“

Das bestätigt auch Andreas Hasenclever, Professor für Friedensforschung und Internationale Politik der Universität Tübingen: „Diese Menschen haben es sehr schwer, in der Nachkriegsgesellschaft ihren Platz zu finden und sich zu integrieren. Sie werden zu Troublemakern.“ Das könne eine Gesellschaft schnell wieder in gewaltsame Auseinandersetzungen stürzen.

Ein weiteres Problem: Kinder in Kriegsgebieten können meist nicht zur Schule gehen. Das wirkt sich nicht nur auf ihre Zukunft und ihre Berufschancen aus, sondern im schlimmsten Fall bis in die nächste Generation: „Mütter sind für die moralische Erziehung ihrer Kinder entscheidend. Je besser sie gebildet sind, desto besser können sie ihr Kind auf das Leben in der Gemeinschaft vorbereiten“, so Elbert. Um 230 Millionen Kriegskindern eine Chance zu geben, sei es daher nicht nur wichtig, ihr unmittelbares Überleben zu sichern: Bildung und psychosoziale Hilfe sind ebenso entscheidend. „Wir müssen auch die seelische Gesundheit der Kinder wiederherstellen. Das Denken in diesen Mustern fehlt noch“, stellt Elbert fest.

Unicef fordert allein in Syrien und den Nachbarländern Investitionen von einer Milliarde Dollar für Bildung, Kinderschutz und Friedensförderung. Das deutsche Entwicklungsministerium hat Unicef im vergangenen Jahr mit rund 150 Millionen Euro unterstützt. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zufolge soll die finanzielle Hilfe aufgestockt werden. Den genauen Betrag wollte er nicht nennen. Dies hänge von den abschließenden Haushaltsberatungen ab.

„Deutschland steht bei der Unterstützung von Unicef auf den vorderen Plätzen“, lobt Heraeus. Alle Industrieländer müssten jedoch noch mehr tun. Was die Spendenbereitschaft der Bürger angeht, stellt Heraeus fest: „Bei von Menschen gemachten Katastrophen ist die Hilfsbereitschaft geringer als etwa bei Naturkatastrophen.“

Doch finanzielle Unterstützung allein reicht nicht, um das Elend zu beenden. „Dazu müssten wir den Krieg aus der Welt schaffen“, sagt Hasenclever. Er beobachtet momentan eine Zunahme von Gewaltkonflikten. „Es wird nicht genug getan, um Auseinandersetzungen beizulegen“, kritisiert er. Staaten müssten gemeinsam mehr politischen Druck ausüben, damit Verhandlungslösungen erzielt werden.