Das Verwaltungsgericht Stuttgart sieht „menschenunwürdige Bedingungen“ in Ungarn kein sicheres Herkunftsland Foto: dpa

Viele Flüchtlinge müssten eigentlich von Deutschland nach Ungarn abgeschoben werden. Doch manche Verwaltungsgerichte sehen dort die Asyl-Mindeststandards der Europäischen Union verletzt. Die Landesregierung sieht Brüssel am Zug.

Stuttgart/Brüssel - Die Worte klingen verlockend. Ungarn sei ein Land der Vielseitigkeit, wirbt die ungarische Tourismusbehörde auf ihrer deutschen Website. Vor allem Budapest, „die Perle an der Donau“, sei weltoffen und elegant. Und mit dem Plattensee, den Thermalbädern und der Tiefebene Puszta gebe es für jeden Geschmack das Richtige. Urlauber sind willkommene Gäste in Ungarn, schließlich spülen sie Geld in die Kassen des notorisch klammen Landes.

Für Flüchtlinge hingegen gilt das Gegenteil: „Die Situation ist dramatisch. Flüchtlinge landen in der Obdachlosigkeit, oder es droht willkürliche Haft“, sagt Marei Pelzer, rechtspolitische Referentin bei der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Ihrer Auffassung zufolge sollen Flüchtlinge deshalb im sogenannten Dublin-Verfahren nicht mehr nach Ungarn abgeschoben werden: „Wir fordern einen Überstellungsstopp für Ungarn.“

Die Dubliner Verordnung von 1997 besagt: Ein Flüchtling, der aus einem Drittstaat in die Europäische Union (EU) kommt, muss in dem Land Asyl beantragen, in dem er die Union das erste Mal betritt. Dort wird dann auch das Verfahren abgewickelt. Niemand kann in zwei Ländern gleichzeitig Asyl beantragen – denn das würde unnötig die Behörden belasten. So weit die Theorie. Die Praxis aber sieht anders aus: In den EU-Mitgliedstaaten herrschen nicht die gleichen Asyl-Standards.

In Griechenland zum Beispiel gibt es laut Europäischem Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Mängel bei Asylverfahren und Aufnahmebedingungen. So fehlt dort eine Struktur zur Bearbeitung von Asylanträgen. Flüchtlingen werde nicht ausreichend Schutz gewährt, und die Unterbringung sei mangelhaft. Die Hellenen können den Flüchtlingen schon seit geraumer Zeit kein Asyl gewähren, sie schicken sie deshalb weiter in Richtung Mitteleuropa. Aus dem gleichen Grund schieben die anderen EU-Länder seit Anfang 2011 keine Dublin-Fälle mehr nach Griechenland ab.

Italien winkt die Flüchtlinge teilweise auch in andere Länder durch – zu Unrecht, wie aus den Urteilen des EU-Gerichts und der nationalen Verwaltungsgerichte hervorgeht. Zwar gebe es teilweise lokale Überbelegungen der Flüchtlingsunterkünfte, landesweit habe Italien aber genügend Möglichkeiten. Im ersten Halbjahr 2014 konnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) so 353 Dublin-Fälle wieder nach Italien zurückschicken.

Die Situation in Ungarn, das seit Mai 2004 zur EU gehört, gestaltet sich undurchsichtiger. Erst zu Beginn dieses Jahres wollte das BAMF einen iranischen Flüchtling im Zuge des Dublin-II-Verfahrens nach Ungarn abschieben. Der Iraner klagte gegen die Abschiebung – mit Erfolg. Das Verwaltungsgericht Stuttgart gab ihm recht. Im Urteil vom 26. Juni stellten die Richter fest, dass Ungarn die EU-Asyl-Mindeststandards verletze und es „systemische Mängel“ gebe. In der Urteilsbegründung heißt es: Zwar sei Ungarn aufgrund der Dublin-Verordnung für die Behandlung des Asylantrags zuständig, allerdings wäre der Antragsteller „im Falle einer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt“. Es sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Iraner bei einer Überstellung nach Ungarn in Haft genommen werde. Pro-Asyl-Juristin Pelzer teilt diese Einschätzung: „Wir sehen ebenfalls systemische Mängel in Ungarn.“

Der Europäische Gerichtshof bewertet die Lage anders. Nur wenige Tage nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart urteilten die Richter in Straßburg in einem vergleichbaren Fall, dass es in Ungarn keine systemischen Mängel mehr gebe. Österreich durfte einen Asylbewerber aus Afghanistan daraufhin abschieben. Zwar ist das am 3. Juli gefällte Urteil noch nicht rechtskräftig. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge orientiere sich aber bereits daran, sagte dessen Sprecher Christoph Sander unserer Zeitung.

Die Richter in Straßburg begründeten ihren Beschluss mit Erkenntnissen aus den jüngsten Berichten der Genfer Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee. Darin heißt es, die Zeiten, in denen Asylbewerber systematisch verhaftet oder direkt nach Serbien und in die Ukraine abgeschoben wurden, seien vorbei.

Die Berichte decken sich jedoch nicht mit den Eindrücken, die Betroffene den Menschenrechtsorganisationen in Deutschland schildern. Die massive Gefahr der unrechtmäßigen Inhaftierungen bestehe nach wie vor. Hinzu komme, dass rechtsextreme Übergriffe auf Flüchtlinge nicht gerade selten vorkommen und von der rechtsorientierten Regierung um Ministerpräsident Viktor Orban geduldet werden. Das mache Ungarn gefährlich und unattraktiv für Asylbewerber.

Für die Verwaltungsgerichte in Deutschland ist das EGMR-Urteil nicht bindend, doch es könnte ein Präzedenzfall sein. Laut BAMF sehen die Richter in den Bundesländern Thüringen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt in Ungarn grundsätzlich keine systemischen Mängel mehr. Im Südwesten, in Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen fallen die Entscheidungen der Gerichte jedoch nach wie vor unterschiedlich aus. Im ersten Halbjahr 2014 wurden laut Pro Asyl bundesweit 230 Überstellungen nach Ungarn ausgesetzt. Zum Vergleich: 88 Asylbewerber wurden im gleichen Zeitraum dorthin zurückgeschickt.

Ohne bundeseinheitliche oder gar europaeinheitliche Regelung mit Blick auf Ungarn bleibt es beim Asyl-Roulette. Die Verwaltungsgerichte in Baden-Württemberg werden auch weiterhin jeden Fall einzeln bewerten. Ob ein Asylbewerber dann nach Ungarn zurück muss oder nicht, liegt ganz allein in der Hand der Richter. Das Landesjustizministerium beruft sich dabei auf die „richterliche Unabhängigkeit“. Im Innenministerium heißt es hingegen: „Aus fachlicher Sicht würden wir es begrüßen, wenn das Urteil des EGMR verstärkt Beachtung fände.“

Landesinnenminister Reinhold Gall (SPD) fordert mit Blick auf etwaige unmenschliche und erniedrigende Behandlungen aber auch Brüssel zum Handeln auf: „Für eine humanitäre Flüchtlingspolitik ist es unabdingbar, die durch EU-Recht gesetzten Aufnahmestandards in allen EU-Mitgliedstaaten umzusetzen.“