Wolodymyr Selenskyj ist seit Mai 2019 Präsident der Ukraine. Foto: dpa/Efrem Lukatsky

Kein Politiker war in der Geschichte der Ukraine so beliebt wie ihr heutiger Präsident. Gleichzeitig spaltet aktuell keiner das Volk stärker als er.

Dieser Moment wenige Tage vor dem vergangenen westlichen Weihnachtsfest war ganz nach dem Geschmack und Humor Wolodymyr Selenskyjs: Im ehrwürdig barocken Marienpalast gab der ukrainische Präsident eine Pressekonferenz. Die Journalisten fragten in Englisch und Ukrainisch das Staatsoberhaupt – bis auf einen Reporter.

Er entschuldigte sich, dass er seine Frage auf Russisch stellte. Selenskyj schmunzelte übers ganze Gesicht wie ein Lausbub, der seinem Lehrer eine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt hat. Denn die Frage wurde dem Präsidenten im Kopfhörer vom Russischen ins Ukrainische übersetzt. Dabei spricht der 46-jährige frühere Schauspieler beide Sprachen seit seiner Geburt in Krywyj Rih im Herzen der Ukraine.

Dass inzwischen zu 86 Prozent Ukrainisch sprechende Volk hatte Spaß an dieser Szene – und einmal mehr schlug sein Herz für den jungen Präsidenten. Zumindest in der gefühlten Stimmung einer Nation, die sich seit zehn Jahren im Krieg mit dem übermächtigen russischen Nachbarn befindet.

Staat im Smartphone

Kein ukrainischer Politiker war jemals so beliebt wie der 2019 vereidigte Selenskyj; erst recht nicht, seit Russland am 18. Februar 2014 in verdeckter Operation die ukrainische Krim besetzte: 93 Prozent Zustimmung hatte der Präsident in Umfragen im März 2022, als russische Angreifer in den Vororten der Hauptstadt Kiew Zivilisten folterten, vergewaltigten, abschlachteten. Als aus dem drei Jahre lang um Frieden kämpfenden Komiker Selenskyj ein Krieg führender Präsident wurde.

Vor der aktuellen russischen Offensive hatte Selenskyj das Volk vor allem mit einer Reform überrascht, deren Wert die Menschen erst heute zu schätzen wissen: Er hatte den „Staat im Smartphone“ ins Leben gerufen: Ukrainer erledigen selbst heute mitten im russischen Bombenhagel die meisten ihrer Behördengänge von der Anmeldung eines Gewerbes bis zur Zulassung eines Autos mit ihrem Mobiltelefon. Unmittelbar hinter der Front registrieren Mitarbeiter der Verwaltung mit ihrem Handy Flüchtlinge, besorgen ihren notfalls neue Geburts- und Heiratsurkunden, sollten die im Kriegsgewirr verloren gegangen sein. Selenskyj sanierte das marode Straßennetz.

Trotz allem: Kein ukrainischer Politiker spaltet gleichzeitig das Volk so wie Wolodymyr Selenskyj. Seit März 2022 veröffentlichte kein ukrainisches Meinungsforschungsinstitut mehr Umfrageergebnisse zu Selenskyj. Wer mit den Menschen auf den Straßen spricht, gewinnt den Eindruck eines Auf und Abs an Sympathie. Eigentlich wäre im Oktober 2023 ein neues Parlament gewählt worden, im März ein neuer Präsident. Des geltenden Kriegsrechts wegen wurden die Urnengänge aber ausgesetzt.

Ungerechtes Rekrutierungssystem

Frauen, Mütter, Familien protestieren gegen ein ungerechtes Einberufungssystem, das offenbar zahlreiche Schlupflöcher bietet, durch die Wehrpflichtige vor der Rekrutierung fliehen. Lange Stehzeiten von Vätern, Männern und Söhnen an der Front weichen die Bereitschaft im Volk auf, ihre Heimat zu verteidigen. Zudem belastet Selenskyjs Zwist mit dem Oberkommando der Streitkräfte die Armee.

Vor zwei Wochen feuerte der Präsident den bei den Soldaten sehr beliebten Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj und seinen Stab. Politiker und Militär geraten immer öfter aneinander, wenn es darum geht, die strategische Lage zu beurteilen: Selenskyj wollte die Städte Bachmut im vergangenen Jahr und Awdijiwka in diesem aus symbolischen Gründen halten, Saluschnyj sie aufgeben. Der eine wollte die Gegenoffensive 2023 weiterführen, der andere einstellen und Blut sparen, als sich der Angriff festfuhr.

„Ich wähle diesen Präsidenten nicht mehr“, sagt Andrej, der täglich Zivilisten von der Front wegholt. Die Gründe: Er bekämpfe die Korruption nicht konsequent und kooperiere zu wenig mit der Armee.