„Die Geschichte der Organtransplantation ist mit Experimenten am Menschen quasi gepflastert.“ Silke Schicktanz lehrt als Professorin Kultur und Ethik der Biomedizin an der Universität Göttingen. Foto: Privat

Ein italienischer Neurochirurg will den Kopf eines Lebenden auf den Körper eines Toten transplantieren. Die Medizinethikerin Silke Schicktanz über die Grenzen des Fortschritts.

Stuttgart – Der Turiner Neurochirurg Sergio Canavero will 2017 als Erster den Kopf eines lebenden Menschen auf den Körper eines Toten verpflanzen. Sein Patient, der russische Informatiker Valery Spiridonov (30), leidet seit seiner Geburt an einer unheilbaren Muskelkrankheit. Die Frage, ob eine solche Ganzkörper- Transplantation medizinisch möglich und ethisch vertretbar ist, ist höchst umstritten. Wir sprachen darüber mit der Göttinger Professorin für Kultur und Ethik der Biomedizin, Silke Schicktanz: -
Frau Schicktanz, die Transplantationsmedizin hat riesige Fortschritte gemacht. Ist es nur eine Frage der Zeit, wann ein Kopf oder ein ganzer Körper verpflanzt wird?
Es hat sich in der Chirurgie sehr viel getan. Es ist durchaus denkbar, dass jemand in den nächsten Jahren versuchen wird solche Transplantationen durchzuführen.
Der Turiner Neurochirurg Sergio Canavero will bereits 2017 den Kopf und den Körper zweier Menschen operativ verbinden. Grenzt das nicht an Größenwahn?
Machbar wäre so etwas durchaus. Für manche Ärzte hat ein solches Vorhaben einen gewissen Reiz, um sich damit zu profilieren.
Der amerikanische Neurochirurg Robert White hatte in den 1970er und 1980er Jahren die Köpfe von Rhesusaffen verpflanzt. Für ihn war das Gehirn das Wichtigste am menschlichen Organismus. Den Körper betrachtete er als eine Art Anhängsel. Wie sehen Sie das Verhältnis von Körper und Geist?
Robert White, der 2010 verstarb, habe ich noch selber kennengelernt. Er war ein ausgezeichneter Neurochirurg und einfühlsamer Arzt. Er vertrat eine klassische zweigeteilte Weltsicht: hier der Körper, dort das Gehirn. Eine Mischung aus cartesianischer und neurozentrischer Sicht.
Was meinen Sie damit? Sie sprechen hier den französischen Philosophen Rene Descartes (1596-1650) an, der gesagt hat: Das Denken und das körperliche Dasein sind streng voneinander getrennt, es gibt keine Verbindung. Ist dieses philosophische Denken nicht als längst überholt anzusehen?
Diese dualistische Weltsicht geht davon aus, dass die Identität und Personalität des Menschen völlig getrennt vom Physisch-Körperlichen sind. Das ist eine Deutung, die in weiten Teilen die Transplantationsmedizin als historisch gewachsene Disziplin beherrscht hat. Ähnliches findet man auch in der heutigen Debatte um den Hirntod. Dabei stellt sich die Frage, ob die Identität des Menschen mit dem Erlöschen der neuronalen Funktionen vorüber ist.
Fest steht aber doch, dass dem Gehirn eine ganz besondere Stellung zukommt.
Natürlich spielt das Gehirn eine besondere Rolle: Zum einen in der Integration von bestimmten Funktionen und zum anderen in dem, was den Menschen wirklich ausmacht – nämlich Sprache, komplexes kognitives Verhalten und anspruchsvolles Handeln. Insofern ist das Gehirn ein besonderes Organ.
Besonders bedeutet nicht zwangsläufig dominant. Wird hier getrennt, was eigentlich zusammengehört?
Das stimmt. Aus der Besonderheit des Gehirns muss kein Dualismus folgen, so dass man den anderen Körperteilen gar keine oder nur eine weniger wichtige Bedeutung beimisst. Die moderne Neuropsychologie und die Kognitionstheorien haben gezeigt, wie stark das Gehirn von äußeren Reizen abhängig ist. Ohne Interaktion mit dem sensorischen Apparat des Körpers könnte das Gehirn gar nicht existieren. Körper und Geist machen den Menschen erst zu dem, was er eigentlich ist.
Und was ist der Mensch? Ein untrennbares Körper-Geist-Wesen?
Die starke Trennung beider Bereiche lässt sich wissenschaftlich nicht aufrechterhalten. Hinzu kommt: Es ist letztlich eine anthropologische und philosophische Frage, wo wir die Persönlichkeit und Identität verorten. Diese prinzipielle Frage kann nicht die Medizin beantworten. Sie kann Hinweise und Plausibilitäten liefern, aber kein ausschließliches Erklärungsmodell.
Plädieren Sie für eine ganzheitlichere Sicht des Menschen?
Ja. Insofern es für viele Menschen wichtig und überzeugend ist, und dies in einer pluralistischen Gesellschaft respektiert werden sollte. Holistisch-ganzheitliche Theorien gehen davon aus, dass das Nervensystem sich nicht nur auf das Gehirn, sondern auf den ganzen Körper erstreckt.
Natürliche Systeme und ihre Eigenschaften sind demnach als Ganzes und nicht als die Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten.
So ist es!
Nicht alles, was machbar ist, sollte auch gemacht werden. Werden mit einer Kopf-Körper-Verpflanzung, wie sie Canavero plant, nicht ethische Grenzen überschritten?
Auf jeden Fall! Man muss ganz konkret fragen, welcher Spender in eine solche Transplantation einwilligen würde und ob der Empfänger über das große Risiko des Scheiterns informiert ist. Mit dem Wissen, dass nicht nur einzelne Organe entnommen werden, sondern der ganze Rumpf transplantiert wird. Es ist auch eine rechtliche Frage in Deutschland, ob zum Beispiel ein Organspenderausweis überhaupt dazu berechtigt.
Visionen waren schon immer ein wichtiger Antrieb für den wissenschaftlichen Fortschritt. Kann man Doktor Canavero nicht einfach machen lassen und darauf vertrauen, dass sein Vorhaben der Medizin irgendwie dienen wird?
Die Geschichte der Organtransplantation ist auch eine Geschichte der Experimente am Menschen. Natürlich kann man den Standpunkt vertreten, dass man etwas wagen muss, um Neues auszuprobieren. Trotzdem darf man nicht nur auf den Fortschritt schauen. Es gibt auch ganz viele Beispiele für falsche Wege in der Medizingeschichte.
In China experimentieren Forscher schon seit einiger Zeit mit Mäusen, deren Köpfe sie verpflanzen. Canavero will gleich am lebenden Menschen herumbasteln. Ist das angemessen und vertretbar?
Robert Whites Affen haben die Operationen gerade mal eine Woche überlegt. Solche Experimente am Menschen wären durch nichts zu rechtfertigen – nicht einmal unter dem Deckmantel eines Heilversuches.
Glauben Sie, dass diese erste Ganzkörpertransplantation gelingen wird?
Es wird sicherlich irgendjemanden geben – ob das Canavero ist oder ein anderer –, der das probieren wird. Früher oder später wird man versuchen Nervenfasern zusammenwachsen zu lassen. Aber bevor man dies am Menschen ausprobiert, muss es erst einmal systematische Tierexperimente geben. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob sie mit Blick auf den potenziellen Nutzen für den Menschen gerechtfertigt sind.
Ist das Risiko für den Patienten nicht zu hoch? Die Chance, dass er die Kopftransplantation überleben könnte, ist ziemlich gering.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient nicht lange überleben wird oder gelähmt bleibt, ist sehr groß. Hinzu kommt ein enorm hohes Risiko einer Immunabstoßung. Bei einer Ganzkörpertransplantation ist die Dosis von Medikamenten, die das verhindern sollen, wesentlich höher als bei einzelnen Organen.
Bei der Beschäftigung mit dem Thema kommt einem gleich der Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley in den Sinn. Sind Ärzte wie Robert White und Sergio Canavero „Erben von Doktor Frankenstein“?
„Frankenstein“ ist eine beispielhafte Erzählung für die Kritik an der Organtransplantation. Bei Mary Shelley wird das Geschöpf allerdings aus vielen menschlichen und tierischen Teilen komplett neu erschaffen. In dem Roman wird ein medizinischer Erfolg beschrieben – das Wesen überlebt. Aber es wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert.
Das könnte auch einem Patienten drohen, der einen neuen Kopf bekommt.
Wir müssen fragen, ob die Gesellschaft schon so weit ist, Menschen mit solchen extremen körperlichen Veränderungen zu akzeptieren. Werden sie nicht eine neue Form von Stigmatisierung erfahren? Derartige Sprünge innerhalb der Medizinforschung sollte man nur machen, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt. Der potenzielle Nutzen muss die möglichen Risiken und Ängste überwiegen.
Da möchte ich „Murphys Gesetz“ zitieren: „Alles, was schief gehen kann, wird schief gehen — und das im ungünstigsten Moment.“
Die Ethik kommt immer zu spät – das ist eine alte Debatte. Aber die Tatsache, dass wir über solche Forschungsprojekte diskutieren und kritische Fragen stellen, zeigt doch, es gibt einen ethischen Fortschritt. Medizinisch sind solche Operationen vielleicht machbar, aber das heißt noch lange nicht, dass sie auch gesellschaftlich anerkannt und gut geheißen werden.
 

Zur Person: Silke Schicktanz

1970 geboren in Darmstadt 1991-1997 Studium der Biologie und Philosophie an der Universität Tübingen 2002 Promotion im Fach „Ethik in den Biowissenschaften“ an der Uni Tübingen 2006-2010 Juniorprofessorin für Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin 2011-2013 Adjunct Professor for Philosophy an der San Francisco State University und der University of California, Berkeley Seit 2010 Professur für Kultur und Ethik der Biomedizin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen