Kurzer Moment des Glücks: Genija Rykova als Sascha, Thomas Loibl als Nikolai Alexejewitsch Iwanow Foto: Residenztheater

In seiner über dreistündigen Regiearbeit zeigt der Intendant des Bayerischen Staatstheaters, was er von der jungen Generation hält: wenig. Martin Kusej präsentiert eine erstarrte, geldgierige Gesellschaft und einen greinenden Egoisten als Titelhelden.

München - Zweiundzwanzig Stühle in einem Raum. Klinisch weiß die Wände, der Stuck an der Decke und auch die hölzernen Flügeltüren. Dass man das Mobiliar so genau beziffern kann, liegt an den Minuten, in denen nichts geschieht während der Geburtstagsfeier der jungen Sascha im Hause der reichen Lebedjews. Als hätten sich Martin Kusej und die Bühnenbildnerin Annette Murschetz von Rilkes berühmtem Weltmüdigkeitsgedicht „Der Panther“ inspirieren lassen – „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“: Die zweiundzwanzig Stühle in einem auf eine Zimmerecke verengten Raum sind das Sinnbild für eine erschlaffte, ausgebrannte Gesellschaft im Wartezimmer des Lebens.

Mal ist es am Samstag im Münchner Residenztheater ein Raum mit schimmliger Zimmerdecke, wenn man bei dem verarmten Iwanow daheim ist, mal ein Raum mit strahlend weißer Wand bei den reichen Lebedjews. Immer aber wirkt das Personal eingeschlossen wie Fliegen in Bernstein. Die Zeit und die Welt sind über die Leute hinweggegangen, manche Stühle sind unbesetzt, womöglich gibt es ein paar Glückliche, die es geschafft haben, sich zu irgendetwas aufzuraffen und fortzugehen.

Die anderen, Alte wie Junge, suchen Ablenkung. Noch gibt es keine Smartphones, auf denen man Videos oder Fotos vom letzten Urlaub oder Facebook-Posts begafft, um ja nicht mit jemandem sprechen zu müssen. Stattdessen hält man sich an Spielkarten fest. Regt sich höchstens mal über ein schlechtes Blatt auf. „Wie kommst du dazu, eine andere Farbe anzuspielen. Dann bleibst du eben hängen mit deinem marinierten As“. Eine Luft zum Schneiden. Irgendwann das entnervte Stöhnen „zum Sterben langweilig ist das“.

Das Stück passt gut in die Zeit

Hier gelingt Martin Kusej eine brillante Szene in der dreieinhalbstündigen Inszenierung von Anton Tschechows zweitem Theaterstück „Iwanow“ aus dem Jahr 1887. Die zahlreichen Gäste in der Szene werden gern gestrichen, Kusej aber besetzt sie und verzichtet auf fast keinen Satz. Er weiß, dass man an Dauerberieselung gewöhnte Zeitgenossen vor allem mit Stille provoziert. Sätze wie „es ist zum Sterben langweilig“ kommentiert das hyperaktive Publikum erwartungsgemäß mit „Ja, genau“, Dreißigsekunden-Pausen mit „ wir haben es verstanden“ – weiter im Text.

Und dann zeigt diese Szene, warum das Stück so gut in die Zeit passt: Man befindet sich wieder einmal in einer Phase der Erstarrung, des Egoismus, der kalten Gewinnmaximierung. So bietet die von Juliane Köhler bravourös biestig gespielte, maskenhaft lächelnde Hausherrin Sinaida auf der Feier nichts als Stachelbeermarmelade an und fällt schier in Ohnmacht, als Iwanow ihr erklärt, dass er nicht mal die Zinsen für das bei ihr geliehene Geld zahlen kann. Vor allem aber rechnet Kusej hier mit der Generation Y und Z ab und all den Hotel-Mama-Dauergästen, die sich an das Vermögen der Eltern schmiegen. Lebedjews blondes Töchterlein Sascha (Genija Rykova) will sich rücksichtslos Iwanow angeln, auch wenn der noch mit der todkranken Anna verheiratet ist. Und ein junger Mann gibt Service-Tipps, wie das Geld der anderen anzulegen ist in Zeiten, in denen man auf der Bank keine Zinsen mehr kassiert. Die jungen Darsteller, die schauspielerisch auch recht blass bleiben, geben sich nicht etwa aggressiv oder rebellisch, sie hängen einfach ab, werden vulgär, wirken wie Abziehbilder der Alten.

Die Hauptfigur badet im Selbstmitleid

Früher war aber auch nicht alles besser. Sollte man jemandem erklären, was das Adjektiv „abgehalftert“ bedeutet, könnte man auf René Dumont zeigen: verarmter alter Graf, der mit der reichen Witwe Babakina (fabelhaft neureich und schmollmündig: Hanna Scheibe) verkuppelt werden soll – ein Geck ohne Rückgrat, das schüttere Haar zurückgegelt, zumeist in Boxershorts und Strickjacke. Ein bisschen Leben im prallen Leib hat immerhin Oliver Nägeles Lebedjew. Doch auch er wartet nur noch, dass er „endlich abkratzt“, kuscht vor seiner geldgierigen Frau Sinaida und der verwöhnten Tochter Sascha. Er vertreibt sich die Zeit mit Wodkasaufen und mit lässigem Hüftschwung, wenn er damit angibt, wie wild früher die Jugend war: „Wenn es Abend wurde, ging man ins Feuer und drehte sich wie eine Kreisel bis zum Morgen.“

Und die Hauptfigur: Iwanow? Stirbt an Langeweile. Badet im Selbstmitleid. Aus Frust, dass sich seine Möglichkeiten, etwas zu verändern, erledigt haben. Wie er selber sagt: „Mit zwanzig ein Held, mit vierzig ein Wrack.“ Beleidigt zieht Iwanow dem Leben eine Schnute, auch seiner schwindsüchtigen Frau Anna (Sophie von Kessel). Der finale Schlagabtausch hat es in sich. Sophie von Kessel, nun gar nicht mehr hustend, sondern mit scharfem Ton, wirft ihrem Mann nicht nur Untreue vor, sondern auch Unvermögen, das Leben wie ein echter Mann zu wuppen. Er, empfindlich getroffen, beschimpft sie als „Judenschlampe“, bricht gleich darauf zusammen, wimmert, entschuldigt sich.

Selbst die Heroik des Mit-sich-selbst-Schlussmachens wird banalisiert

Während man in Dimiter Gotscheffs gefeierter Volksbühnen-Inszenierung Samuel Finzi mit Herzklopfen verfolgte, wie er langsam vor lauter Selbstekel erstarrte, gönnt Kusej diesem Iwanow keine Heldenposen. Er ist ein in sich gekehrter, vor sich hin murmelnder Egoist mit Liquiditätsproblemen. Nicht die schauspielerisch glücklichsten Momente auch, wenn Thomas Loibl als Titelheld Iwanow sich an Heulkrämpfen versucht. Nach Annas Tod will er Sascha heiraten, sagt aber die Hochzeit in letzter Minute ab.

Selbst die Heroik des Mit-sich-selbst-Schlussmachens wird banalisiert. Iwanow bewegt sich mit Pistole in der Hand in Richtung Tür, dreht sich noch einmal um, als warte er darauf, vom Selbstmord abgehalten zu werden. Doch keiner aus der Hochzeitsgesellschaft rührt sich. Verdatterte Gesichter, als der Schuss schließlich fällt: ist also doch noch mal was passiert. Aber letztlich bleibt einfach nur ein Stuhl mehr in diesem Wartezimmer des Lebens unbesetzt. Ändern – so lautet Kusejs resignativer Schluss – wird sich so bald nichts in dieser müden Gesellschaft.