Nach dem Anschlag herrscht in Frankreich weiter Ausnahmezustand. Foto: AP

Die Menschen in den Tod zu reißen, das ist das Ziel des Lastwagenfahrers in Nizza. Am Tag nach dem Anschlag fügen sich Augenzeugenberichte zu einem Bild des Schreckens, das zunehmend deutlichere Konturen aufweist.

Paris - Ein Mann irrt in der Morgensonne umher. Er sucht seine Frau. Er hat im Lauf der Schreckensnacht sämtliche Krankenhäuser der Stadt aufgesucht, ohne eine Spur der Vermissten zu finden. Die Leichen der Opfer sind noch nicht geborgen. Sie liegen hinter Absperrbändern und Sichtschutzplanen. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit noch nicht beendet.

Der Wind, der am Vorabend an den Palmen der Uferpromenade von Nizza gezerrt hatte, hat sich nicht gelegt. Hätte er am Vorabend heftiger geblasen, wäre das alles womöglich nicht passiert. Dann wäre das Feuerwerk aus Witterungsgründen abgesagt worden so wie im benachbarten Departement Var, wo Frankreichs Nationalfeiertag in mehreren Gemeinden ohne Lichterzauber zu Ende ging. Dann wären jetzt nicht 84 Tote und 18 Schwerverletzte zu beklagen.

Der Lastwagen reißt Masten mit, Mülleimer und vor allem Menschen

So aber ist es passiert. Augenzeugenberichte fügen sich im Lauf des Freitags zu einem zunehmend deutlichere Konturen aufweisenden Bild des Schreckens. Kurz nach 23 Uhr ist es, als über der die Bucht von Nizza säumenden Promenade des Anglais die letzten Feuerwerkslichter am Nachthimmel erlöschen. Die Stimmung ist gelöst. Am Vormittag hatte Staatschef Francois Hollande das Ende des Ausnahmezustands angekündigt, der nach den Pariser Attentaten vom 13. November verhängt worden war.

Die Entscheidung kam nicht überraschend. Die Sorge, Terroristen könnten die Fußballeuropameisterschaft in Blut ertränken, hatte sich als unbegründet erwiesen. Und auch der zu Ende gehende Nationalfeiertag schien von Terror verschont geblieben zu sein. Doch dann setzt sich am Westende der Uferpromenade ein 19 Tonnen schwerer Lastwagen in Bewegung. Der weiße Blechkoloss beschleunigt auf 70, 80 Stundenkilometern, fährt dann in ungeordnetem Zickzack die Promenade entlang, mal nach links, mal rechts ausbrechend. Er reißt Masten mit, Mülleimer und vor allem Menschen. Sie in den Tod zu reißen, ist das Ziel des Fahrers.

Die Granaten erweisen sich als Attrappen

Als die Polizei ihn endlich stoppen kann, hat er bereits eine zwei Kilometer lange Schneise des Todes geschlagen. Die Windschutzscheibe ist von Kugeln durchlöchert, der Fahrer selbst aber offenbar unversehrt geblieben. Er greift zu einer Pistole, eröffnet seinerseits das Feuer. Als er den Kopf aus dem Seitenfenster streckt, bietet er erstmals ein klar erkennbares Ziel, stirbt im Kugelhagel der Sicherheitskräfte. Eine Straßenecke weiter wähnt sich der Musiker Jean-Baptiste Pol „im Krieg“. Er vernimmt Schüsse und Schreie, sieht Menschen Richtung Stadtzentrum rennen, die Augen vor Schreck geweitet.

Im Lastwagen finden die Polizisten Granaten, die sich bei näherer Überprüfung als Attrappen erweisen, und einen offenbar dem Täter gehörenden Personalausweis. Am Steuer saß demnach ein 31 Jahre alter Franko-Tunesier. Der in Nizza lebende Mann war den Behörden zuvor nicht aufgefallen. Anders als die meisten anderen Terroristen, die in Frankreich seit Anfang 2015 gemordet haben, taucht sein Name in den potenziell gefährliche Islamisten erfassenden Dateien der französischen Geheimdienste nicht auf.

Politische Gräben tun sich auf

Ein Arzt meldet sich zu Wort. Philippe Juvin heißt er. Der Mediziner weist darauf hin, dass die Zahl von 18 Verletzten nur die körperlich Versehrten erfasse. Hinzuzurechnen seien Hunderte von seelisch Verletzten. Selbst diejenigen, die das Morden aus der Ferne verfolgt hätten, dürften seelische Traumata davontragen, glaubt Juvin.

Nach dem Anschlag auf die Redaktionsräume des Satireblattes „Charlie Hebdo“ war in Frankreich ein vielstimmiges „Je suis Charlie“ erklungen. Nun ist es ein „Je suis Niçois“, mit dem Franzosen ihre Solidarität mit den Opfern bekunden. Anders als im Januar 2015 hat der Terror die Nation diesmal freilich nicht zusammengeschweißt.

Politische Gräben tun sich auf. Neun Monate vor den Präsidentschaftswahlen versucht die konservative Opposition, Verstörtheit und Verbitterung der dem Terror ausgelieferten Franzosen zu nutzen, der Regierung eine Mitschuld an dem Morden zuzuweisen.

Francois Hollande bittet zur Krisensitzung

„Ich bin verbittert“, sagt der Oppositionsabgeordnete Georges Fenech, Vorsitzender der nach den Attentaten vom 13. November einberufenen parlamentarischen Untersuchungskommission. „Unser Land ist nicht ausreichend bewaffnet, um dem Terror die Stirn zu bieten“. So hat es die Regierung nach Ansicht des zu Nicolas Sarkozys „Republikanern“ zählenden Parlamentariers versäumt, die Polizei ausreichend mit automatischen Waffen auszustatten. Dass die Amokfahrt des Attentäters damit hätte verhindert werden können, das wolle er nicht behaupten, sagt Fenech. Aber sie hätte seiner Ansicht nach vielleicht nicht so lange gedauert, nicht gar so viele Menschen in den Tod gerissen.

Im Elysée-Palast hat Staatschef Francois Hollande am frühen Morgen zur Krisensitzung gebeten. Regierungschef Manuel Valls hat das Handy am Ohr, als er die Freitreppe des Palasts hinauf stürmt. Die dem Premier folgenden Kollegen nehmen zwei Stufen auf einmal. Das sieht so aus, als sei jede Sekunde kostbar. Dabei können die Politiker erschreckend wenig tun. Nicht einmal Schadensbegrenzung können sie betreiben. Die Toten sind nicht wieder lebendig zu machen. Und um die Verletzten kümmern sich Krankenhausärzte. Pierre-Henry Brandet, Sprecher des Innenministeriums, versichert, sie seien bestens ausgerüstet, die Reserven an Spenderblut reichten aus, um die Verletzten zu versorgen.

Hollande hat dem wenig hinzuzufügen. Er kündigt an, dass der Ausnahmezustand, den er am Vortag mit Wirkung zum 26. Juli aufheben wollte, nun doch nicht aufgehoben wird. Es bleibt, wie es war, lautet die nicht eben ermutigende Botschaft. Dazuhin ordnet der Präsident eine dreitägige Staatstrauer an, fliegt nach Nizza, bekundet am Tatort Solidarität mit den Opfern.