Ausbilderin Birgit Ziegler (links) und die frisch gebackene Kauffrau im Einzelhandel Manuela Uhrig. Sie bereut ihre Entscheidung für die Ausbildung nicht Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

30 000 Stellen für das neue Ausbildungsjahr sind in Baden-Württemberg noch unbesetzt. Auch in der Region Stuttgart suchen Unternehmen auf allen denkbaren Wegen. Freie Plätze gibt es dennoch in allen Branchen.

Stuttgart - Konzentriert räumt Manuela Uhrig ein Regal ein. Erst vor wenigen Tagen hat die junge Frau ihre Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel beendet und ist von ihrem Arbeitgeber fest übernommen worden. „Ich bin ein Mensch, der gerne Kontakt zu anderen hat“, sagt sie. Den bekommt sie hier bei „Hübsch und gut“ in Feuerbach, wo es Bürobedarf und Bücher gibt, jeden Tag reichlich.

Bis dahin war es aber ein weiter Weg. Denn die 29-Jährige hat direkt nach dem Hauptschulabschluss keinen richtigen Plan gehabt, in welche Richtung es gehen soll. Eine Ausbildung hat sie abgebrochen, danach zig Bewerbungen geschrieben. „Ich wusste selbst nicht, was ich will“, sagt sie. Beim Probearbeiten in Feuerbach ist der Funke schließlich übergesprungen.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn viele Betriebe können ihre Lehrstellen nicht mehr besetzen. Allein in der Stellenbörse der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart (IHK) gibt es derzeit noch rund 600 freie Ausbildungsplätze für September. Bei der Handwerkskammer Region Stuttgart sind es gar 1200. In Baden-Württemberg sind laut der Bundesagentur für Arbeit noch rund 30 000 Plätze unbesetzt.

In allen Branchen noch offene Ausbildungsplätze

Und zwar quer durch alle Branchen. Selbst in den beliebtesten Berufen, heißt es unisono bei IHK und Handwerkskammer, gibt es noch viele Lehrstellen. Am schwersten tun sich Anlagenmechaniker, Bäcker, Fleischer, Einzelhandel, das Bankengewerbe, Spedition und Logistik, Betriebe im Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch die Informationstechnologie.

„Einen brauchbaren Lehrling zu finden ist für uns seit Jahren fast unmöglich“, sagt der Chef eines Sanitärunternehmens aus dem Rems-Murr-Kreis. Er deutet damit an, was viele Betriebe kennen: Manchmal fehlt es gar nicht an der Zahl der Bewerber, sondern an deren Qualifikation und Willen, die Ausbildung tatsächlich anzutreten. Diese Erfahrung hat auch Birgit Ziegler gemacht, die bei „Hübsch und gut“ die Rolle der Ausbilderin übernimmt. „Zuletzt haben sich bei uns 40 Leute auf einen Ausbildungsplatz beworben. Übrig geblieben sind am Ende drei“, erzählt sie. Den Vertrag unterschreiben wollte letztlich nur eine – und die kam einfach nicht. Also alles wieder von vorn. „Viele, die aus der Schule kommen, wissen gar nicht, was es bedeutet zu arbeiten“, sagt sie. Deshalb sehe man inzwischen lieber Bewerber, die bereits ein paar Jahre älter sind, und schaue mehr nach der persönlichen Eignung als nur nach Noten.

Guter Nachwuchs ist also längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Deshalb müssen die Unternehmen sich mächtig strecken, um geeignete Bewerber zu finden. „Sehr viele Berufe suchen händeringend nach jungen Leuten und agieren deshalb beim Ausbildungsmarketing sehr professionell“, weiß Gerd Kistenfeger, Sprecher der Handwerkskammer. Vom Kindergarten bis zur Universität sind manche Betriebe inzwischen unterwegs, um schon Kinder zu sensibiliseren oder später Studienabbrecher ins Boot zu holen. Sie bieten Praktika an, unterstützen den örtlichen Sportverein, um sich bekannter zu machen, gehen auf Ausbildungsmessen und sind in den sozialen Netzwerken unterwegs. Einzelne Betriebe haben sogar schon damit angefangen, einen Auslandsaustausch für ihre Auszubildenden zu organisieren, um sich noch attraktiver zu machen und beim Ringen um den besten Nachwuchs die Chancen zu erhöhen.

Flüchtlinge spielen noch keine Rolle

Junge Flüchtlinge, die immer wieder als Lösungsansatz für das Fachkräfteproblem genannt werden, spielen in den Statistiken noch keine Rolle. Die Praxis zeigt, dass die duale Ausbildung für sie ein Fremdwort ist und viele lieber sofort Geld verdienen wollen. Zwar gibt es zahlreiche Projekte, um sie in eine Lehre zu bringen, doch das benötigt Zeit. „Es fehlt häufig an Sprachkompetenz und da brauchen wir Geduld“, sagt etwa Bernd Stockburger, Geschäftsführer für den Bereich Berufliche Bildung bei der Handwerkskammer. Die Früchte der Anstrengungen könnten „alle Beteiligten erst in ein paar Jahren einfahren“.

Also bleibt die Lage angespannt. Zumal die Zahl der offenen Lehrstellen noch deutlich höher sein könnte. Betriebe sind nicht verpflichtet, sie den Kammern oder der Arbeitsagentur zu melden. Die 30 000 im Land und mehreren Tausend in der Region könnten also nur ein Teil der freien Ausbildungsplätze sein. „Als Konsequenz beginnt die Suche immer früher“, weiß Kistenfeger. Manche Betriebe seien jetzt schon dabei, nach Kandidaten für 2017 zu fahnden.

Manuela Uhrig dagegen ist angekommen. Sie ist heilfroh, dass sie die Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel gemacht hat und jetzt bei „Hübsch und gut“ fest arbeitet. „Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen“, sagt sie und lacht. Diesen Weg, das wünschen sich die Unternehmen, sollten noch viel mehr junge Menschen einschlagen.

Klagen über fehlende Motivation

Die IHK Region Stuttgart hat jüngst ihre Betriebe zur Ausbildungssituation befragt. Dabei wollte man auch wissen, welche Probleme bei Bewerbern gesehen werden. Fast 90 Prozent der Unternehmen haben dabei verschiedene Ausbildungshemmnisse festgestellt. Das waren zehn Prozent mehr als noch im Jahr zuvor.

Das größte Problem stellen nach wie vor unklare Berufsvorstellungen dar. Viele junge Leute wissen demnach nicht, was sie selbst wollen und was überhaupt zu bestimmten Berufsbildern gehört. „Das zeigt die Notwendigkeit der erfolgreichen Umsetzung des neuen Schulfachs Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung vom neuen Schuljahr im Herbst 2016 an“, sagt IHK-Haupt- geschäftsführer Andreas Richter.

Allerdings geht die Mängelliste noch weiter. 63 Prozent der Umfrageteilnehmer klagen über fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation bei den Auszubildenden. Am häufigsten kommt diese Kritik aus den Branchen Baugewerbe, Handel, Gastronomie sowie Gesundheit und Pflege. Der Wert ist im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozentpunkte angestiegen und damit auf Rekordhöhe. Als weiteres großes Defizit sehen die Unternehmer unzureichendes mündliches und schriftliches Ausdrucksvermögen (63 Prozent, ein Anstieg um vier Prozentpunkte). Außerdem beklagen 54 Prozent der Betriebe das Fehlen von elementaren Rechenfähigkeiten. 52 Prozent sehen bei Auszubildenden eine fehlende Belastbarkeit – unter dem Strich kein gutes Zeugnis für den aktuellen Nachwuchs. (jbo)