Die Kompanie von Marie Chouinard reist an die Grenzen von Virtuosität und Schönheit Foto: Sylvie Ann-Paré

Mit der Uraufführung von Marie Chouinard erlebte Eric Gauthiers Tanzfestival „Colours“ am Wochenende seinen ersten Höhepunkt. Viel Jubel gab es für die Kompanie aus Kanada, obwohl sie alles anders macht, als es das Theaterhaus-Tanzpublikum an diesem Ort gewohnt ist.

Stuttgart - Leicht zugänglich und schön anzusehen: So könnte man die Tanzwelt skizzieren, die Gauthier Dance im Theaterhaus etabliert hat und die dem jungen Ensemble seit acht Jahren begeisterte Fans und volle Säle beschert. Doch jetzt gehört die Bühne den „Colours“-Gästen aus aller Welt, und die bringen wie Marie Chouinards Kompanie aus Montréal tatsächlich andere Farben ins Spiel. Für Eric Gauthier ist das eine prima Gelegenheit, um auszutesten, welche Wege sein Publikum bereit ist mitzugehen.

Ein Abtauchen ist in keiner der 55 Minuten möglich, in denen Marie Chouinards Uraufführung „Soft virtuosity, still humid, on the edge“ über die Bühne powert. Zwei Tänzerinnen, die sich mit verschlungenen Beinen auf einem Drehteller Nase an Nase gegenübersitzen, bringen gleich zu Beginn die Grundhaltung der kanadischen Choreografin auf einen Nenner. Immer geht es bei Chouinard um die Energie, die unausweichlich fließt – zwischen zwei Menschen, zwischen dem Menschen und seinem Umfeld, zwischen Mann und Frau, zwischen dem Ursprung des Lebens und seinem Ende.

Diesen Bogen wird auch „Soft virtuosity, still humid, on the edge“ schlagen. Es sind die großen Mysterien, die Chouinard beschäftigten. Und doch gelingen ihr dabei aktuelle Statements. Schon vor zehn Jahren erzählte „Body Remix“, indem Krücken die Tänzer deformierten, von fragiler Schönheit, aber auch von der Hinfälligkeit des Körpers und seiner Disziplinierung.

Um Deformationen geht es auch im neuen Stück, das sich nicht nur im Titel als Gemälde gibt. Wer will, kann im Tableau menschlicher Emotionen, das später die ganze Gruppe live per Kamera auf den Bühnenhintergrund malt, alles Leid und alle Emotionen in Großaufnahme finden, die Flüchtlinge überall auf der Welt bewegen. In grausamer Langsamkeit tasten sich die zehn Tänzer auf einer imaginären Linie von links nach rechts vor, recken Hände. Der Fries aus ineinander verwobenen Leibern ist angeordnet wie die Schiffbrüchigen auf Guéricaults Gemälde „Floß der Medusa“, auch da stand das Überleben infrage.

Keinen Zweifel an der Dringlichkeit dessen, was hier geschieht, lässt der Sound von Louis Dufort. Er verbindet mit einer Wucht jeden Einzelnen im Saal mit der Bühne, dass man sich nicht entziehen kann. Zäh wabernd und dickschichtig sind diese Klänge, aber oft auch von pochender Aggressiviät. Derart begleitet, verliert selbst das eng umschlungene Frauenpaar am Beginn alles Idyllische. Die Gesichter der beiden erscheinen stark vergrößert im Hintergrund: Sie bringen Mimik zum Tanzen, als stünden sie für einen expressionistischen Maler Modell. Da leuchtet Munchs „Schrei“ auf, dort gehen Zungen spazieren, während das Ensemble, Behinderungen andeutend, unaufhörlich vorbeihinkt, die Gesichter wie etwas Kostbares in Kapuzen verborgen.

Ein Catwalk des Abnormen bleibt dieses Stück, das am Ende zwei Männer auf dem Drehteller platziert und den Bogen zu seinem Anfang schlägt. Der Fluss des Lebens ist nicht aufzuhalten, auch nicht seine Zumutungen – nicht einmal vom paradiesischen Zwitschern und den Engelswesen, die am Ende aufscheinen.

Dass Marie Chouinard offen ist für Anregungen aus der bildenden Kunst und Bewegungen wie eine Malerin denkt, zeigte auch das zweite Stück ihres „Colours“-Abends, eine deutsche Erstaufführung. Ein Buch von Henri Michaux mit Tuschezeichnungen auf 64 Seiten und einem Gedicht verwandelt sie in den machtvollen Strom der Zeichen, den der belgische Künstler mit „Mouvements“ durchaus im Sinn hatte. Ruhig, fast meditativ stehen die schwarzen Formen auf den Seiten. Sie als stilisierte Silhouetten des Menschlichen zu lesen scheint richtig, hört man das Gedicht, das die Tänzerin Carol Prieur mitten im Stück regelrecht aus sich herauspresst.

Fern von allem Kontemplativen gestattet Marie Chouinard ihrer Lesart von „Mouvements“ keine Sekunde Ruhe. Die in Schwarz gekleideten Tänzer bilden Michaux’ Formen nach, korrigieren, bewegen sich nervös oder tun sich zusammen, wenn Vielgliedrigkeit gefragt ist. Präzise, unerbittlich treibt sie der hämmernde Metall-Sound von Louis Dufort von Seite zu Seite. Der ersten Lektüre, schwarz auf weiß, folgt ein Schnelldurchlauf als Negativ, zu dem die Tänzer fast komplett entblößt durchs Stroboskoplicht flirren.

Für Marie Chouinard ist eine weiße Seite Herausforderung: Sinnbild aller Möglichkeiten, Kunst im Infinitiv. In ihren Stücken ist die Notwendigkeit künstlerischen Schaffens immer spürbar – ein Strömen, das gestaltet sein will. In „Henri Michaux: Mouvements“ gibt sie dem Undarstellbaren, das im Buch Silhouette bleibt, einen Körper und findet immer neue Zeichen für den Durst nach Leben und dem Verlangen, seine Rätsel zu lösen.

www.coloursdancefestival.com