Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Foto: SWR/Thomas Müller

Im Freiburger Konzerthaus hielten Zuhörer Schilder mit roten Herzen in die Luft, in der Stuttgarter Liederhalle warfen Musiker Rosen ins Publikum: Vor ihrer bevorstehenden Fusion im September haben die beiden großen Orchester des SWR ihre letzten Konzerte gegeben.

Freiburg/Stuttgart - Man soll gehen, heißt es, wenn es am schönsten ist. Offenbar verbinden sich Abschied und Schönheit (oder sagen wir: Qualität) auch dann noch gerne, wenn man nicht gehen will, sondern gehen muss. Dass die letzten Konzerte der beiden großen Orchester des Südwestrundfunks vor deren Zusammenlegung zum SWR-Symphonieorchester im September als besonders schön in Erinnerung bleiben werden, mag mit der Trauer über das Ende einer guten alten Zeit, vielleicht außerdem mit eingeübten Filterfunktionen des menschlichen Gehirns zusammenhängen. Es gründete aber auch im spürbaren Willen der beiden Klangkörper, gemeinsam mit ihren beiden scheidenden Chefdirigenten François-Xavier Roth (Freiburg) und Stéphane Denève (Stuttgart) ihre finalen Heimspiele, die auch Festkonzerte zu den 70. Geburtstagen der beiden Klangkörper waren, zu künstlerischen Höhepunkten zu machen.

Freiburg nimmt Abschied von über 100 gut vernetzten musikalischen Menschen

Dass man in Freiburg nicht nur von der künstlerischen Identität eines über sieben Jahrzehnte gewachsenen Kollektivs Abschied nahm, sondern auch von einer guten Hundertschaft musikalisch aktiver, kreativer und in der Stadt vielfach vernetzter Menschen, sorgte für eine besondere emotionale Aufladung des dortigen Endspiels, das, wer keine Karte im ausverkauften Saal mehr bekommen hatte, vor dem Konzerthaus unter dem Sommerabendhimmel auf Videoleinwand verfolgen konnte. Dort saßen tatsächlich auf Klappstühlen und auf Decken viele aufmerksame Zuhörer, darunter viele junge, und lauschten dem beziehungsreichen programmatischen Gewaltmarsch durch drei Jahrhunderte Musik- und 70 Jahre Orchestergeschichte. Und am Ende, nach prall gefüllten gut vier Stunden, die live im SWR übertragen wurden, hielten drinnen Zuhörer im Publikum Schilder mit roten Herzchen und mit Worten der Anerkennung in die Luft – als kleine Hommage an den Chefdirigenten in französischer Sprache. „Singulier“, las man da, „extraordinaire“, „excellent“.

Das Konzert zuvor war wirklich extraordinär. Mahlers Frühfassung zum ersten Satz seiner zweiten Sinfonie, die den Titel „Todtenfeier“ trägt, bezog ihre überwältigende Wirkung aus der Verschmelzung zweier Kulturen: einer delikaten Gestaltung der musikalischen (vor allem klangfarblichen) Mittel, die man dem Klischee nach in Frankreich verortet, und einem eher deutsch lokalisierten Streben nach struktureller Klarheit, das auf Glanzzeiten des Orchesters unter Hans Rosbaud wie unter Michael Gielen zurückverwies. Gleiches galt für Pierre Boulez’ vier „Notations“, die das Orchester (nicht nur nach Aussage seines Chefdirigenten) wie ein Streichquartett spielte, und es galt ebenfalls für Mark Andres 2015 in Donaueschingen uraufgeführtes Klarinettenkonzert „über“. Dort hauchte Jörg Widmann als Solist der Musik anfangs gleichsam den Odem ein und machte stellvertretend für den zunehmend vitalen Klangkörper mitsamt seiner feinen elektronischen Dekoration am Ende den letzten Atemzug. Zwischendurch vernahm man die Vornamen der Musiker, die kaum hörbar in den Saal geflüstert wurden; „über“ ist eine Trauermusik, eine Hommage an das Orchester und ebenso ein subtiler Kommentar wie Schuberts „Unvollendete“, Mahlers „Todtenfeier“ und vielleicht auch am Ende Strawinskys „Sacre du Printemps“. Dass dort, obwohl sich eigentlich doch jemand zu Tode tanzt, die Energie den Sieg über die Agonie davontrug, darf man als Zeichen der Hoffnung werten.

In Stuttgart gibt es eine Wiederbegegnung mit einem faszinierenden, selten gespielten Stück

Ähnliches geschah auch am Donnerstagabend im Stuttgarter Beethovensaal. Zwar stand dort mit Hector Berlioz’ „Roméo et Juliette“-Sinfonie nur ein einziges Werk auf dem Programm, aber die gewaltige emotionale und dynamische Steigerung des Schlussgebets von Chor und Bariton beschwört so nachdrücklich die neu gefundene Vereinigung des Gegensätzlichen, dass, wer will, auch aus diesem Werk einen positiven Impetus in Richtung Orchesterfusion herauslesen kann. „Wir schwören . . ., dass wir auf ewig zwischen uns ein Band knüpfen wollen, ein Band zarter Liebe und brüderlicher Freundschaft!“ Wenn das keine klaren Worte sind.

Wobei man sich auch jenseits vielsagender Worte darüber freuen konnte, im Stuttgarter RSO-Finale einem ebenso schwierigen wie faszinierenden Werk wieder einmal begegnet zu sein. Berlioz’ dreiteilige (oder dreiaktige?) „dramatische Sinfonie“ scheint in sich selbst zu implodieren Sie ist zugleich lyrisch, dramatisch und episch, sie ist Kantate, Sinfonie, Oratorium und ein bisschen auch Oper und Ballett-Vorlage, sie strotzt vor wundervollen Melodien, aber auch vor einer gleichsam fluchtbereiten, mit Halbtonschritten satt angereicherten Tonalität; sie atmet tiefromantische Emphase ebenso wie die Lust an klassischer Leichtig- und Luftigkeit, und sie benutzt zwar Shakespeares Schauspiel-Vorlage, ist aber eigentlich eher eine emotionale Befindlichkeitsstudie des Komponisten selbst. Ein hybrides, vom Wiener Großkritiker Eduard Hanslick seinerzeit als „ästhetisches Monstrum“ gescholtenes Werk, das bei seiner Aufführung durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Stéphane Denève vor allem mit fein gestalteten Details überzeugte. Das dramatische Vorwärtsdrängen, auch die Aufladung weiter (Streicher-)Phrasen mit Spannung und Dynamik ist weniger Denèves Sache; dafür entstehen schöne, fragile, filigrane Klang-Bilder etwa rund um die Feenkönigin Mab oder beim Erwachen Julias in der Gruft, das der Solo-Klarinettist als Romeo wirkungsvoll evoziert, und insgesamt kann das Orchester hörbar machen, was (s)eine gewachsene Klangkultur ausmacht.

Auf die doppelte Orchester-Beerdigung folgt im September eine einfache Auferstehung

Berlioz’ Chorpartien demonstrieren – anders als etwa in Beethovens Neunter – nicht etwa die Unzulänglichkeit der absoluten Musik, sondern unterstreichen eher die Stärke und Freiheit des frei von Text und Bedeutung agierenden rein Instrumentalen, das in „Roméo et Juliette“ im Zentrum steht. Dafür, dass sich auch schlichtes Erzählen und Verstärken überaus sauber poliert und in guter Balance präsentierte, sorgten das SWR-Vokalensemble, der NDR-Chor sowie Herren der EuropaChorAkademie. Unter den Vokalsolisten überzeugten Clémentine Margaine (Mezzosopran) und Loic Félix (Tenor), während der Bariton Laurent Naouri angestrengt und nicht besonders intonationssicher wirkte.

Am Ende winkten in Freiburg und in Stuttgart die Chefs und ihre Instrumentalisten in die Säle, die Pultnachbarn auf der Bühne umarmten sich ein letztes Mal. Das war’s dann. Auf die doppelte Orchester-Beerdigung wird im September eine einfache Auferstehung folgen. Noch ist unklar, in welcher Form und Verfassung der neue Klangkörper den Zuhörern dann erscheinen wird. Noch mögen manchen ähnliche Fragen quälen, wie sie Gustav Mahler 1888 in das (später zurückgezogene) Programm zu seiner „Todtenfeier“ hineinschrieb: „Was ist das Leben – und nun dieser Tod? Gibt es ein Fortbestehen?“ Uns bleibt nichts übrig: Wir müssen an das Wunder glauben.