Marijn Rademaker tanzt mit Edward Watson vom Royal Ballet „3 in D“ Foto: Stuttgarter Ballett

„Etwas von allem“ und „einiges Neues“, hatte Ballettintendant Reid Anderson am Silvesterabend zu Beginn des dreieinhalbstündigen Galaprogramms angekündigt. Seine Kompanie und zwei Gäste hielten dieses Versprechen und setzten auch beim Abschied von Marijn Rademaker eigenwillige Akzente.

Stuttgart - Körper, Geist und Seele in Einklang: Wie selbstverständlich dies bei aller stilistischen Vielfalt von klassisch bis zeitgenössisch ein Qualitätsmerkmal der Stuttgarter Kompaniemitglieder ist, führte das Ballett bei seiner Silvestergala in 15 Kapiteln im Stuttgarter Opernhaus vor. Nicht eines geriet zur bloßen Leistungsschau, immer belebten Intension, die Lust am Spiel und Hingabe die Choreografien. Und so durfte das Publikum, unter dem sich Marcia Haydée ebenso befand wie der niederländische Choreograf Hans van Manen, auch am letzten Abend des Jahres 2014 in Gefühlen schwelgen.

Als herzzerreißenden Schlusspunkt tanzten Sue Jin Kang und Marijn Rademaker noch einmal ihren Liebes-Pas-de-deux aus dem dritten Akt von John Neumeiers „Die Kameliendame“ und füllten die innige Szene mit realem Abschiedsschmerz. Schließlich verliert die Stuttgarter Kammertänzerin und Direktorin des Koreanischen Staatsballetts mit dem nach Amsterdam wechselnden Tänzer nach Robert Tewsley abermals einen ebenbürtigen Bühnenpartner.

Nicht nur bei Sue Jin Kang flossen daher die Tränen. Auch bei Jason Reilly und anderen Kollegen lagen Lachen und Weinen nah beieinander. So erhielt sogar der regenbogenbunte Guss aus Luftballons und Stoffbändern gut zwei Stunden vor dem Jahreswechsel tiefere Bedeutung: Auch die Spektralfarben des Lichts zeigen sich nur bei von Niederschlag getrübter Heiterkeit.

Zurück auf Anfang: John Crankos Pas de deux „Hommage à Bolschoi“ eröffnete den Abend mit nobler Klassik. In schönster Harmonie mit Daniel Camargo und senkrecht wie ein Lot belegte Elisa Badenes mit jedem Piqué und jeder Drehung, wie bestechend der Reiz bewegter Körperachsen im Raum ist. Kurz vor dem Ende der Gala bot das Paar als mit allen Wassern gewaschene Kitri und sprunggewaltiger Basilio einen Ausschnitt aus Maximiliano Guerras „Don Quijote“.

Wie anders sich Perfektion bei Marco Goecke darstellt, zeigte David Moore in seinem Debüt von „Mopey“ zu den barocken Klängen von Carl Philip Emanuel Bach. Mit Hilfe sorgfältig getimter Dynamikwechsel machte der junge Brite sowohl die Eleganz als auch die angestaute Energie in den gebrochenen Bewegungen sichtbar. Wie unter Stroboskop-Licht splittern sie auf, zusammengeballte Glieder entfalten sich zu einem lyrischen Körpergedicht.

Auf den ersten Blick erstaunlich akademisch mutet Demis Volpis „Aus ihrer Zeit“ an. Der jüngste Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts hatte das Birgit Keil gewidmete Duett für Karlsruhe entwickelt; nun war es erstmals in Stuttgart zu sehen. Wer Birgit Keil nicht nur als Elegantissima, sondern auch als gewitzte Strippenzieherin kennt, sieht in Alicia Amatriain, einst Stipendiatin ihrer Stiftung, schnell die deutsche Ballerina verkörpert, als die Keil galt. Mit wohlmeinender Ironie lässt Volpi die humorvolle Seite eines geradezu vorbildlichen Paares leuchten und erfindet für das Aufblitzen mancher Charakterzüge kecke Sekundensoli. Wunderbar, wie Constantine Allen seinen Arm in Zeitlupe sinken lässt, um seiner Partnerin nicht nur Halt zu geben. Die Geste huldigt und wird von Amatriain ebenso kokett wie demutsvoll quittiert.

Eine Art moderne Coppelia bringt Katarzyna Kozielska in ihrem Pas de deux „Bite“ auf die Bühne. Das Publikum hält den Atem an, als Anna Osadcenko wie eine Gliederpuppe im Spagat in die Arme von Jason Reilly fällt. Und wenn dieser mit der Hand an ihrem Bein entlangstreicht, um mit dem Zeigefinger in der Kniekehle ein Einknicken auszulösen, erzählt die einzige Choreografin des Abends die alte Geschichte von Pygmalion und seinem Geschöpf ganz neu.

Zeitlos: Goeckes Solo „Äffi“, 2005 auf Marijn Rademakers muskulösen Leib choreografiert, das blonde Haar als Lichtfang. Wie zwingend Rademakers letzter „Äffi“-Streich als Mitglied der Kompanie gelingt, lässt sich hören: Im voll besetzten Opernhaus war es selten so still – nur Johnny Cashs Stimme und des Tänzers Pfeifen füllten den Raum.

Nach der ersten Pause standen drei Erstaufführungen auf dem Programm, ergänzt von Volpis „Allure“, erstmals von Myriam Simon in intimer Selbstgewissheit dargeboten. In Hans van Manens „Variations For Two Couples“ ist es vor allem Anna Osadcenko, der das Spiel mit aus der Achse gekippten Körperflächen in Reinform gelingt. Virtuos und dennoch lässig: Miriam Kacerova und Roman Novitzky in Edward Clugs detailreichem Pas de deux „Radio and Juliet“.

Sowohl Javier de Frutos Begegnung zweier Tänzer „3 With D“ als auch das nach der zweiten Pause uraufgeführte „The Chambres Of A Heart“ von Itzik Galili nähern sich dem Thema Liebe unter Männern mit tastender Behutsamkeit. Beide Stücke machen deutlich, wie viel Angst Nähe verursachen kann, wie viel Hürden auf dem Weg zueinander zu nehmen sind. In aller Kürze gelingt Marijn Rademaker und Edward Watson vom Royal Ballet, getragen von den Klängen des Elektrogitarristen und Sängers Dan Gillespie Sells und des Pianisten Ciaran Jeremiah, in „3 With D“ das Psychogramm einer Annäherung und Trennung. Schön, dass der so natürlich wirkende Gasttänzer durch Sensibilität und Geschmeidigkeit glänzen darf. Aus der Umarmung heraus entwickelt Itzik Galili seinen Pas de deux für Jason Reilly und Friedemann Vogel, deren Verschmelzung zu Beginn und am Ende in einem Lichtkegel gebannt ist.

Als Variante des durch Neumeiers „Kameliendame“ vertretenen Kurtisanen-Themas darf der Ausschnitt aus Kenneth MacMillans „Manon“ verstanden werden. Friedemann Vogel als Grieux und die Prix-Benois-Trägerin des Jahres 2012, Alina Cojocaru, als Gast vom English National Ballet gestalten die Partie mit strahlender Hingabe an den Moment.

Durch eine Szene aus Christian Spucks „Leonce und Lena“ rücken einmalig die Halbsolisten und das Corps de Ballet in den Blick des Galapublikums – von den erhobenen Augenbrauen bis zu eingedrehten Füßen als Komödianten. Und auch Douglas Lee bleibt in Stuttgart unvergessen. Bevor Marijn Rademaker mit Sue Jin Kang den Schlusspunkt unter seine Stuttgarter Zeit setzt, die 2000 begann, und dabei die hohe Kunst des Loslassens zelebriert, tanzten Alicia Amatriain und Alexander Johnes Lees „Fanfare LX“.

Ein rundes Programm also. Nur eines hätte man sich gewünscht: einen Sondervorhang für Rademaker. Doch der wollte sich dem Jubel offenbar nicht in einer Solo-Verbeugung aussetzen.