Alicia Amatriain und Jason Reilly beim neuen Ballettabend „Alles Cranko!“ Foto: Stuttgarter Ballett

Das Stuttgarter Ballett erinnert mit seinem neuen Abend „Alles Cranko!“ an seinen Gründer. Die komplizierten, rastlosen Schrittfolgen in den vier handlungsfreien Stücken des Choreografen fordern selbst die besten Techniker heraus – und fragen nach ihrem Platz in der Gegenwart.

Stuttgart - Stillstand auf Stuttgarts Straßen. Am Donnerstagabend blieben so manche Kunstfreunde im Stau stecken – und das ausgerechnet zur Premiere des Ballettabends „Alles Cranko!“. Viele Plätze im Opernhaus füllten sich erst beim Späteinlass.

Ins Stocken geraten, sich verspäten: Auf der Bühne konnte sich das kein einziger Tänzer, keine einzige Tänzerin erlauben. Alle vier zum handlungslosen Œuvre John Crankos zählenden Stücke machten deutlich, dass der Gründer des Stuttgarter Balletts nicht das Ankommen, sondern das Weiterkommen im Sinn hatte. Eine Bewegung entspringt aus der anderen, verzweigt sich, als wäre Kohlensäure im Spiel. Nirgends ein Moment des Innehaltens, selbst wenn sich Raumrichtung, Körperhaltung und Konstellation so verändern, dass zumindest eine Verlangsamung angebracht wäre. So ruhelos wie Cranko lebte, so rastlos fügte er Drehung an Hebung, Sprünge an Bodensequenzen und schnelle Fußarbeit an weite Schritte. Nichts schien ihm zu kompliziert.

Welchen Stellenwert hat heute noch etwa das an George Balanchines neoklassische Ballettsprache angelehnte „Konzert für Flöte und Harfe“ (uraufgeführt 1966), das mehr als 25 Jahre nicht zu sehen war? Eine Antwort mag lauten: Um das Bewegungsgedächtnis, die Orientierung im Raum, das Zusammenspiel der Einzelnen in der Gruppe und die Körperbeherrschung einer Kompanie zu trainieren, dürfte es kaum etwas Komplexeres und Vertrackteres geben als Crankos handlungslose Choreografien. Mit ihrer Detailverliebtheit, Schnelligkeit, ihren Hebungen für Männer und anderen überraschenden Wendungen im klassischen Vokabular eilen sie dem rein akademischen Tanz davon, ohne seinen Rahmen zu sprengen.

So frisch, rein und hell Andreas Noack an der Querflöte und Friederike Wagner an der Harfe das Mozart-Konzert in C-Dur aus dem Orchestergraben erklingen lassen, so freudvoll entfaltet sich das weiße Ballett für ein Dutzend Männer und zwei Tänzerinnen auf der Bühne. Ob gemeinsam oder wie im Kanon versetzt: Unter der sorgsamen Einstudierung von Georgette Tsinguirides und Tamas Detrich gelingen ornamental und synchron sich wandelnde Körperbilder.

Ganz gegenwärtig und mit inkarnierter Musikalität interpretieren die kecke, quecksilbrig flinke Elisa Badenes, der gut gelaunte, fußvirtuose Alexander Jones sowie der blitzpräsent den Raum durchmessende Arman Zazyan ihre Parts. Daneben wirkt Alicia Amatriain mit ihrer ins Tragisch-Huldvolle verweisenden Ballerinen-Miene bei aller Kunstfertigkeit eigenartig puppenhaft.

Edvard Griegs fünfteilige Suite „Aus Holbergs Zeit“ hat Cranko für seinen gleichnamigen Pas de deux verdichtet, indem er die Sätze I, IV und V wie ein Triptychon auffasst. Der jeweils kurze Auftakt und Ausklang umrahmt das zentrale, mit raffinierten Hebungen gespickte Adagio, das Miriam Kacerova und Constantine Allen ebenso lebendig wie leichtfüßig meistern.

Weit mehr eine Opferszene als ein abstraktes Werk mit der Möglichkeit, es auch motivisch zu lesen, machen Alicia Amatriain und Jason Reilly aus Crankos „Opus 1“, 1965 für Birgit Keil und Richard Cragun entstanden. Das Staatsorchester unter der Leitung von Wolfgang Heinz intoniert Anton von Weberns „Passacaglia“ farbenreich und in manchen Momenten expressiv bis an die Grenze zum Jazz. Cranko lässt in dem Elf-Minuten-Werk über die urmenschlichen Themen Liebe und Tod eine Vorliebe für mechanische Bewegungen erkennen. Arme und Unterschenkel klappen wie Taschenmesser ins Leere, Hände befördern einen Liegenden wie am Fließband weiter, ein Corps in Kostümen mit Anklängen an die Raumfahrt-Ästhetik der 1960er Jahre schiebt sich zwischen Liebende, die einander suchen und halten wollen, sich dann aber doch verlieren.

Zum 230. Mal auf der Bühne: Crankos „Initialen R.B.M.E“. Auf dieses Jubiläum weist eine Notiz im Besetzungszettel der „Alles Cranko!“-Premiere hin. Es gibt Stimmen, die meinen, Crankos Hommage an seine vier Musen könne man heute nicht mehr realisieren. Zu sehr seien die vier Sätze zu Johannes Brahms Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur an die Originalbesetzungen von 1972 gebunden: an die Freunde Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen. Diese Haltung ist verständlich.

Und doch ist es mehr als eine schöne Geste, wenn am Ende des Abends mit Andrej Jussow am Piano vier ganz andere Initialen nicht einfach in eine unbestimmte Ferne schauen, sondern ihren Blick zielgerichtet auf die Seitenloge richten. Dort sitzt Crankos Gedächtnis: Georgette Tsinguirides. Sicher kann und will auch sie das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, aber unter ihrer Einstudierung glückt, dass Daniel Camargo als sprunggewaltiger Vertreter des R, Anna Osadcenko als B, Myriam Simon als geheimnisvolle M und Arman Zazyan als E die familiäre Essenz der „Initialen“ in die Gegenwart tragen. Und das mit respektvoll im Zaum gehaltener Hingabe und verinnerlichtem Wissen um dieses einmalige Beziehungsgeflecht, das längst Ballettgeschichte geschrieben hat.

Weitere Vorstellungen: 7., 11., 15. und 16. Mai sowie 11., 12., 14., 18., 20., 23., 26. und 27. Juni. Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90.