Raus aus Mitte: Bahnhofsvorplatz wird für mehr als 100 Obdachlose zum neuen Szenetreff.  

Stuttgart - In der Stuttgarter Innenstadt haben bauliche Veränderungen dafür gesorgt, dass die ehemaligen Treffpunkte von Obdachlosen nun kaum noch frequentiert werden. Doch das Problem scheint sich nur verlagert zu haben: Jetzt sammeln sich "verhaltensauffällige Menschen" am Cannstatter Bahnhofsvorplatz.

"Alkoholexzesse, öffentliches Urinieren und Pöbeleien sind am Cannstatter Bahnhofsvorplatz zum Alltag geworden", beklagt der CDU-Fraktionschef Roland Schmid. Vor allem bei schönem Wetter ist der hiesige Bahnhofsvorplatz fest in der Hand von "verhaltensauffälligen Menschen", wie Sozialpädagogen sie nennen. Ab Mittag, wenn das Cafe 72, eine von der Caritas betriebene Betreuungseinrichtung, schließt, füllt sich der Platz. Schnell sind die wenigen Sitzbänke zwischen Bahnhofsportal und den gegenüberliegenden Einkaufsstraßen belegt. Bald kreisen Bierflaschen. Je später am Tag, desto höher der Alkoholpegel, desto lauter die Unterhaltungen, desto aggressiver leinenlose Hunde. Manchmal stolpern Reisende auch über Betrunkene, die in den Bahnhofszugängen ihren Rausch ausschlafen.

Der Cannstatter Bahnhofsvorplatz zählt inzwischen zu den größten sozialen Brennpunkten in Stuttgart. "Wir haben etwa 110 Personen dokumentiert, die hier auflaufen, davon 27 Frauen", berichtete Caritas-Bereichsleiter Klaus Obert im Bezirksbeirat Bad Cannstatt. Fast alle hätten Wohnung oder Unterkunft im Stadtteil, die meisten der Klienten seien alkoholkrank. Manche litten dazu noch an einer psychischen Erkrankung, viele hätten schwere Persönlichkeitsstörungen. "Da kann man nicht einfach Tabletten geben, und das Problem hat sich erledigt", so der Betreuer Manuel Borrego Beltran. "Menschen, die jeden Tag einen Vier-Promille-Pegel benötigen, um überhaupt laufen zu können, zu einer Entziehungskur zu motivieren ist schwierig."

Vor Jahren noch war eine kleine Parkanlage neben der Paulinenbrücke in der Stuttgarter City der Dauerbrenner in politischen Gremien und bei Ordnungsbehörden. Unter der Hochbrücke trafen sich täglich Dutzende von Wohnsitzlosen, harten Drogenkonsumenten und Alkoholabhängigen. Die Polizei musste regelmäßig anrücken, nicht nur um Platzverweise zu erteilen, sondern auch um blutige Streitereien zu schlichten. Um der Lage Herr zu werden, beschloss der Gemeinderat schließlich, die Tankstelle unter der Paulinenbrücke Ende 2007 zu schließen und so den leicht erreichbaren Alkoholhahn zuzudrehen.

Dass die "Pauline", wie der Szenetreff allgemein heißt, heute verwaist daliegt, ist auch einem anderen Umstand zu verdanken. "Seit nebenan Großbaustelle ist, sind die Leute an andere Orte ausgewichen", sagt Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle. Ein Teil der "Pauline"-Klientel, vor allem drogenabhängige Junkies, sei zum Züblin-Parkhaus abgewandert, so ihre Beobachtung; "die Leute treten dort aber nicht so augenfällig auf". Grund dafür sei das inzwischen sehr engmaschige Betreuungsangebot in der Innenstadt. "In diesen Einrichtungen halten sie sich eher auf", weiß Kienzle.

Andere hätten sich in der wilden Zeltsiedlung im Mittleren Schlossgarten eingerichtet. "Dort bewegt sich inzwischen eine ganz schwierige Gemengelage unterschiedlichster Gruppen", so die Bezirksvorsteherin. Das Spektrum reiche von Robin Wood über Parkschützer, Obdachlose, Junkies bis hin zu Punks und Anhängern einschlägiger Jugendbewegungen wie Emos. Auch die Polizei spricht inzwischen von einem "Wildwuchs" im Schlossgarten mit mehreren Dutzend Zeltbewohnern.

Die Polizei bestätigt aber auch, dass frühere stadtweite Brennpunkte ihre einstige Bedeutung längst verloren haben. "Die Treffpunkte verlagern sich immer wieder", so ein Polizeisprecher. Aus strafrechtlicher Sicht habe sich die Lage ebenfalls entspannt. Randale sei eher die Ausnahme. "Wir haben es nicht mit einer permanent gewaltbereiten Klientel zu tun", so der Sprecher. Wo Straftaten vorkämen oder Anwohner sich über Störungen beschwerten, sei man aber konsequent zur Stelle.

In Bad Cannstatt will man nun versuchen, das Problem zu verschieben. Mehrheitlich votierte der Bezirksbeirat dafür, zusammen mit den Betroffenen einen passenden Treffpunkt abseits der Passantenströme zu suchen und diesen mit einem Klohäuschen zu bestücken. Zugleich soll der Gemeinderat die Straßensozialarbeit dort aufstocken.