Fatih Antesci ist Paketfahrer und hier in der Nähe vom Haus der Wirtschaft beim Ausliefern bestellter Waren unterwegs Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Was läuft verkehrt mit dem Verkehr? Ob mit dem Auto oder der Bahn – immer öfter kommt man nicht vorwärts in der Region Stuttgart, die in Staus zu ersticken droht. Heute: ein Blick auf einen Paketzusteller, der massiv zu kämpfen hat.

Stuttgart - Für diesen Job braucht Fatih Antesci Flügel. Eine Zuckerbrause aus der Dose verleiht angeblich Flügel. Daher stapeln sich in der Beifahrertür seines Mercedes Sprinter die leeren Dosen des Energy-Drinks. Es ist das legale Doping für einen Job, der mehr als den ganzen Mann fordert.

Fatih Antesci ist Paketfahrer bei Hermes. Und damit ist er einer der Buhmänner im täglichen Wahnsinn, der sich auf den Stuttgarter Straßen abspielt. „Es ist wirklich ein Wahnsinn“, sagt der türkischstämmige Mann und verzieht die Mundwinkel: „Der Verkehr ist eine Katastrophe. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“

Der gelernte Maler weiß: Er – und alle anderen in der Logistikbranche – sind die Übeltäter. Sie verursachen Verkehr. Aber wer Fatih Antesci einen Tag auf seiner City-Tour begleitet, merkt schnell: der 37-Jährige ist auch Opfer. „Wir sind die Letzten, wir genießen null Respekt bei den Leuten. Sogar die Polizei schaut auf uns herab.“ An diesem Vormittag wird er in der Eberhardstraße tatsächlich von einem Beamten schikaniert.

Die Paketzusteller stehen am Ende einer Kette

Fatih Antesci und seine Kollegen bei Hermes, DHL, UPS oder anderen Paketzustellern stehen ganz am Ende einer Kette. Wer sich über die Antescis dieser Welt ärgert, weil sie wieder mal in der zweiten Reihe oder auf einem Radweg halten, sollte wissen: Meistens hat er diesen Verkehr samt seiner Belastung selbst produziert.

Fatih Antesci öffnet die Hecktür seines Transporters und zeigt auf etwa 240 kleine Päckchen. Die meisten sind vom Online-Händler Amazon. „Wir hängen alle am Amazon-Tropf“, erklärt Achim Gerken, Hermes-Niederlassungsleiter Stuttgart.

Die Reise dieser Päckchen beginnt am Smartphone oder am Computer. Ein paar Fingerübungen – schon ist das Buch, die Schuhe oder die CD bestellt und auf dem Weg. Bevor die Waren im Sprinter von Fatih Antesci landen, kommen sie per Sattelschlepper in der Hermes-Zentrale bei Gerken in Weil im Schönbuch an. Täglich sind es 13 dieser tonnenschweren Asphaltkreuzer, die hier landen. Von Weil im Schönbuch gehen die Waren weiter mit 7,5-Tonnern in die sogenannten Satelliten. Fatih Antescis Päckchen werden nach Ludwigsburg-Tamm gekarrt. Dort sortiert er von 7 bis 9 Uhr seine Fuhre. Weil er in Pforzheim wohnt, ist er bereits seit 5.45 Uhr unterwegs.

Eine Reifenpanne eines Lkw reicht für ein Chaos

„Nur die Reifenpanne eines Lkw auf der A 6 reicht – und alles ist dicht. Es entsteht ein gigantischer Stau“, sagt Gerken. Es folgt der Schmetterlingseffekt. Der Flügelschlag des Falters löst letztlich ein Chaos aus. Und am Ende müssen es alle ausbaden. Auch Fatih Antesci.

Denn jede Verzögerung bringt ihn noch stärker in die Bredouille. Eigentlich darf er seine Päckchen in der City, zum Beispiel auf der Königstraße, nur bis 11 Uhr ausfahren. „Illusorisch“, sagt er, „das schafft keiner.“ An diesem Tag ist es 12.45 Uhr, als er die verbotene Zone verlässt. Inzwischen hat er sich alles Mögliche anhören müssen. Ein Radler hat ihm mit Anzeige gedroht, Fußgänger warfen ihm Beleidigungen an den Kopf, und Autofahrer haben ihn genötigt. Jeder kämpft für sein Recht. Keiner gibt nach.

„Ich mache das jetzt 13 Jahre“, sagt er, „ich kann eigentlich nicht mehr.“ Was er damit meint, ist leicht verständlich. 180 Stopps. 180-mal aus dem Sprinter rein- und rausklettern aus dem hohen Fahrerhäuschen des Sprinter. Dann im Joggingtempo durch die Häuserschluchten, im Stechschritt durch die Treppenhäuser. „Ich brauche alle zwei Monate neue Laufschuhe“, sagt er, danach sind die Dinger ausgelatscht. Täglich legt er zehn Kilometer Gewaltmarsch hin. Kaffee- oder Mittagspause ist nicht drin. Zeit ist Geld. Er verdient es täglich in zehn bis zwölf Stunden am Tag.

Am Abend ist der Körper ausgelaugt

„Das ist Stress ohne Ende“, seufzt der Mann: „Wenn ich abends heimkomme, bin ich eine Weile nicht ansprechbar.“ Weder für seine Frau noch sein achtjähriges Töchterchen. Selbst für das Baby hat er keinen Kopf. Denn der Kopf ist leer. Der Körper ausgelaugt. Und in  der  Nacht holen ihn die Erlebnisse des Tages wieder ein. Fatih Antesci leidet unter Schlafstörungen. Und das alles für etwa 1800 Euro netto im Monat. „Manche, vor allem Osteuropäer, verdienen noch weniger“, sagt er.

Wo und wie soll das enden? Mit Fatih Antesci, aber auch mit dem täglichen Verkehrswahnsinn, der sich auf Stuttgarts Straßen abspielt? Der Paketzusteller zuckt mit den Schultern: „Ich habe keine Lösung.“ Eher kleine Verbesserungsvorschläge: „Ein besseres Baustellenmanagement“, nennt er. Oder „Extraspuren für den Busverkehr wie in Istanbul“ – auch wenn es ihm und seinen Kollegen eher schadet. Und die vielen Einbahnstraßen – zum Beispiel im Hospitalviertel – versteht er überhaupt nicht: „Sie mögen sinnvoll sein, aber wer sich einmal verfährt, muss einen Riesenumweg fahren.“

Selbst wenn die Stadt- und Verkehrsplaner auf den 37-jährigen Fahrer hören würden, der große Wurf einer Lösung sieht anders aus.

Der Stress ist zu viel: Im Sommer macht Fatih Antesci einen Imbiss auf

Damit geht der tägliche Wahnsinn wohl weiter. Alle bestellen fleißig bei Online-Händlern, aber alle ärgern sich über den Verkehr und Fatih Antesci. Doch der Paketzusteller von Hermes wird wohl die Reißleine ziehen.

Fatih Antesci hat die Nase voll. Vom Stau. Vom Stress. Von den Erfahrungen mit manchen Zeitgenossen. Selbst täglich sechs Dosen Energy-Drinks verleihen ihm keine Flügel mehr. „Ich kann nicht mehr. Ich mache wahrscheinlich im Sommer in Pforzheim einen Imbiss auf. Ich kann ganz gut grillen.“