Wenn die Gleise verschwinden, kann sich die Stadt ausbreiten. Foto: Piechowski

Stuttgart 21: Tobias Wallisser sieht Defizite bei der Zukunftsorientierung des Projektes.

Stuttgart - Mit visionären Projekten wie der Idee für die Gestaltung des Stadtzentrums der CO2-freien Stadt Masdar City erwarb sich Tobias Wallisser (40) internationales Renommee. Für das städtebauliche Konzept des Bahn-Großprojekts Stuttgart 21 fordert der Professor für Innovative Bau- und Raumkonzepte an der Kunstakademie Stuttgart ein tieferes Nachdenken.

Herr Wallisser, der Streit um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 hat sich in kurzer Zeit ungemein zugespitzt. Wie beurteilen Sie die augenblickliche Situation?

Was mich bei der ganzen Debatte ärgert, ist die Gleichsetzung von Stuttgart-21-Gegnern mit Fortschrittsverweigerern. Wer gegen dieses 13 Jahre alte Projekt sei, das auf völlig anderen Prämissen basiert, als wir sie heute haben, sei gegen Fortschritt! Ich würde das gerne andersherum formulieren: Wer für wirklichen Fortschritt ist, für die wirklich nachhaltige Entwicklung der Stadt, der muss als Erstes innehalten - ich unterstütze die Forderung nach einem Moratorium absolut - und sich fragen, welche Qualitäten entstehen und ob das die Qualitäten sind, die man haben möchte.

Woran denken Sie dabei?

Zunächst: Der Wettbewerb fand vor 13 Jahren statt, und damals fand auch ich Christoph Ingenhovens Entwurf das beste Projekt. Es hatte etwas sehr Futuristisches an sich. Inzwischen sind wir aber 13 Jahre weiter, es gibt den ICE und viele andere Zugtypen, die zwei Triebköpfe haben, es müssen keine Loks mehr gewechselt werden, weswegen ein Kopfbahnhof an sich kein Problem mehr ist. Die Fragestellung ist heute also gar nicht mehr, wie man am besten aus einem Kopf- einen Durchgangsbahnhof macht. Ich sehe aber noch eine andere Problematik. Wenn wir jetzt alles Geld in dieses Projekt investieren, werden wir kein Geld mehr dafür haben, was in zehn Jahren, wenn der Bahnhof fertig sein soll, der Stand der Technik ist.

Sehen Sie Defizite?

Zum Beispiel reden heute alle von zukunftsweisenden Mobilitätskonzepten, von Umsteigekonzepten. Regenerative Energien sind ein großes Thema. Darüber hinaus kann man den Bahnhof ja immer nur im Gesamtkontext des Projekts beurteilen - zusammen mit der städtebaulichen Komponente. Und das, was auf dem Baufeld A1 neben dem Bahnhof bereits entstanden ist, das macht für die Zukunft nicht gerade Hoffnung, dass da ein lebendiges neues Stadtviertel entstehen wird.

Was lässt Sie zweifeln?

Ich sehe in dem Städtebau, wie er für die frei werdenden Flächen geplant ist, einfach zu wenig Qualität. Zunächst: Was sind die Qualitäten, die eine Stadt zur Stadt machen? Es kommt darauf an, dass es städtische Dichte gibt, dass es Heterogenität gibt, dass eine große Integration von Arbeit, Freizeit und Familienleben vorhanden ist und dass es ein hohes Maß an politischem Engagement gibt, eine Beteiligung der Bürger. Wenn ich mir anhand dieser Stichworte anschaue, was geplant ist, dann sehe ich einfach keine Verbesserungen durch dieses Projekt. Nur bei der politischen Beteiligung hat das Projekt für Stuttgart mittlerweile unheimlich viel bewirkt. Der beste Effekt von Stuttgart 21 ist, dass die Bürger auf die Straße gehen und sich wieder fürs Gemeinwohl engagieren! Das ist das, was die Stadt plötzlich interessant macht, denn dadurch wird es viel städtischer, als es vorher war.

Begeistern Sie die Entwicklungsmöglichkeiten auf den frei werdenden Flächen nicht?

Die Tieferlegung des Bahnhofs schafft eine große Erweiterungsfläche mitten in der Stadt. Aber den ökonomischen Druck, dieses Gebiet schnell zu entwickeln, gibt es derzeit nicht. Dazu kommt noch, dass dieses Gebiet von der Halle des bestehenden Bahnhofsgebäudes abgeriegelt wird. Der Tiefbahnhof bricht also keine Barrieren. Etwas, was mich am Städtebau ärgert, ist diese Helikopter-Perspektive. Da schaut man sich von ganz weit oben ein Gebiet an, dann zeichnet man Schwarzpläne - also Pläne, auf denen Häuser schwarz und Straßenflächen weiß sind - und achtet darauf, dass es ein schönes Muster gibt. Das ist nicht mehr zeitgemäß! Natürlich kann man argumentieren, dass jetzt die Verbindung zwischen Stuttgart-Ost über den Park zur Heilbronner Straße geschlagen wird. Aber welchen Bedarf gibt es da überhaupt? Wer soll da aus welchem Grund von der einen zur anderen Seite gehen? Durch die Bürger, die Nutzer wird die Stadt zur Stadt, nicht weil der Schwarzplan irgendwie aufgeht.

Für Stuttgart sind die Häuser zu hoch

Fürchten Sie eine Stadtplanung im luftleeren Raum?

Es gibt in der Architektur eine sehr alte Diskussion, ob Architektur eine autonome Disziplin ist. Bezieht sich Architektur hauptsächlich auf sich selbst, auf etwas, was aus Traditionen kommt, oder hat Architektur auch etwas mit dem täglichen Leben zu tun? Bei Stuttgart 21 hat man großmaßstäbliche Blocks in die neuen Bauviertel eingezeichnet und Haushöhen, die wir aus Berlin kennen. Das mag in Berlin oder in Mailand, oder was auch immer man zitiert, auch funktionieren, nur stehen die Blocks dort nicht hinter einem Hauptbahnhof von Bonatz. Das ist eine importierte Typologie, im Stuttgarter Talkessel ergibt das nicht unbedingt Sinn. In Berlin sind die Blocks wenigstens noch aufgeteilt in verschiedene Einzelnutzungen und in Gebäude gegliedert, in Stuttgart ist ein Gebäude gleich ein Block. Da entsteht kein städtisches Leben. Da entsteht auch keine Diversität.

Sie haben das A1-Viertel mit einem speziellen Computerprogramm untersucht. Wie arbeitet dieses Space Syntax?

Mit dieses Programm kann man analysieren, ob Verknüpfungen innerhalb einer Stadt funktionieren oder nicht. Kurz gesagt: Wie Wege oder Straßen miteinander verflochten sind, entscheidet darüber, ob sich städtisches Leben entwickeln kann. Auf Stuttgart angewandt, können Sie sofort sehen, dass das bestehende Baufeld A1 als Stadtviertel nicht funktionieren wird. Ein Grund: Sie haben hier gar keine Sichtbeziehung, Sie sehen nicht, wo Sie hingehen, wenn die Gebäude als riesenhafte Kisten vor Ihnen auftauchen. Das heißt, Sie werden im Zweifel einen anderen Weg nehmen, an dem Sie mehr erleben. Deswegen werden sich dort keine Läden etablieren, egal, wie viele Wohnungen Sie hintendran bauen.

Was schlagen Sie vor?

Friedrich Hebbel hat einmal gesagt, es gehört mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern, als ihr treu zu bleiben. Das Mindeste - und etwas, wobei auch niemand etwas zu verlieren hätte - wäre, dass man das ganze Projekt noch mal in der Gesamtschau anschaut. Ich glaube nicht, dass Stuttgart als Stadt ein Problem hat, wenn es sich auf andere Weise entwickelt. Diese Stadt hat einfach eine einzigartige Lage. Stuttgart liegt im Talkessel, man fährt im Zug in den Talkessel hinein, man erlebt es - das ist ein sehr interessanter Aspekt. Die Frage wäre: Wie kann man das noch viel besser erlebbar machen?

Die Bahn hat mit dem Abriss des Nordflügels des Hauptbahnhofs begonnen. Der neue Durchgangsbahnhof wird hinter der Halle des Bonatz-Baus als Tiefbahnhof entstehen. Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie indes das oberirdische Ankommen als Vorteil?

Oberirdisch anzukommen ist ein großer Vorteil. Überlegen Sie nur: Wenn Sie eine Straße oberirdisch oder durch eine Unterführung überqueren können, nehmen Sie meistens die oberirdische Variante. Nun kann man diese große Gleisfläche in der Stadt tatsächlich als Problem sehen, man kann daraus aber auch einen Nutzen ziehen. Man könnte etwa die Bahnsteigüberdachungen des Kopfbahnhofs ändern, ein großes Glasdach in Länge eines doppelten ICEs über die Bahnsteige spannen und damit eine großartige Ankunftshalle, einen überdachten öffentlichen Raum schaffen. Zugleich könnte man diese Dachfläche mit Fotovoltaik zur Energiegewinnung nutzen, der Bahnhof würde zum regenerativen Kraftwerk, das auch angrenzende Wohnviertel versorgt. Von dem, was im aktuellen Stuttgart-21-Entwurf an städtebaulichen Nutzungen vorgesehen ist, könnte man einen Großteil durch Verdichtung der Ränder auch bauen. Dann könnte man versuchen, am Ende der Königstraße eine bessere Verbindung zum Bahnhof und zum Schlossgarten zu erreichen. Und wenn man weiterdenkt, könnte man anstelle der Klett-Passage den Autoverkehr unter die Erde verlegen und einen autofreien Bahnhofsvorplatz schaffen. Wenn schon unterirdisch, dann lieber ein Tunnel für die Autos.

Welche Chancen sehen Sie für eine umfassende Zukunftsorientierung in und für Stuttgart und die Metropolregion?

Es geht darum, ein ausgewogenes Mobilitätskonzept zu schaffen, die öffentliche Aufenthaltsqualität am und im Bahnhof sowie die Anbindung des Bahnhofs an die Stadt rundum zu verbessern und in allen Planungen die Erzeugung regenerativer Energie zu beachten.