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Geplanter Überraschungscoup im Schlossgarten geht daneben: Mehrere schwere Pannen.

Stuttgart - Falsche Lageeinschätzung, mangelhafte Koordination mit Behörden und eine zu späte Einbindung der Rettungskräfte - diese Vorwürfe an die Polizei stehen seit dem harten Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas gegen Stuttgart-21-Gegner im Schlossgarten im Raum.

Die stundenlangen harten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Stuttgart-21-Gegnern am Donnerstag im Mittleren Schlossgarten haben bundesweit für Schlagzeilen und spektakuläre Bilder aus der Landeshauptstadt gesorgt.

24 Stunden nach dem Einsatz versuchen sich Innenminister Heribert Rech (CDU), Landespolizeipräsident Wolf Hammann und der Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Stumpf in einer eilends einberufenen Pressekonferenz im Landtag gegen die anschwellende Kritik zu rechtfertigen. "Wir haben im Augenblick keinerlei Anhaltspunkte für Fehlverhalten der Polizei", beteuert Minister Rech und weist Rücktrittsforderungen an seine Person zurück. Im selben Atemzug verspricht Rech: "Es bleibt hier nichts unaufgeklärt."

Nach Informationen unserer Zeitung ist es bei dem Einsatz im Schlossgarten, an dem 700 Polizeibeamte aus Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg beteiligt waren, zu mehreren schweren Pannen gekommen: Im Kern beruhen sie alle mehr oder minder auf unzureichenden Lageeinschätzungen der Stuttgarter Polizeispitze.

Den Einsatz rasch mit chirurgischer Präzision durchziehen und das Überraschungsmoment nutzen - mit der Strategie hatte Polizeipräsident Stumpf vor exakt drei Monaten in der Nacht zum 30.Juli 2010 die komplette Stuttgart-21-Gegnerschaft düpiert und ohne größere Gegenwehr von dieser Seite den Bauzaun rings um den Nordflügel des Bonatz-Baus aufstellen können. Danach wurde das Gebäude abgebrochen.

Indeskretion aus Polizeikreisen lässt Termin durchsickern

Auch die Polizeigitter rings um das neue Baufeld im Schlossgarten wollte Stumpf "möglichst kurzfristig" errichten. Dass die Wahl auf die Nacht zum 1.Oktober fiel, soll sich nach Informationen aus Polizeikreisen die Deutsche Bahn, vertreten durch Projektchef Hany Azer, erbeten haben. "Über den Tag haben wir uns vor einigen Wochen verständigt", sagt Stumpf am Freitag diplomatisch. Nur die Uhrzeit des Einsatzbeginns liegt in seinen Händen. Erst sollte es am Donnerstagabend losgehen, dann Nachmittags um 15 Uhr. Als die Parkschützer-Initiative den Termin tags zuvor wohl durch Indiskretion aus Polizeikreisen publik macht, zieht Stumpf den Einsatzbeginn auf 10 Uhr vor.

Zur selben Zeit sammeln sich in der nahe gelegenen Lautenschlagerstraße 1000 bis 2000 Schüler zur Demo unter dem Motto: "Bildung statt Prestigebahnhof!" Die sogenannte Jugendinitiative gegen Stuttgart21 hat die Demo am 24.September dem städtischen Ordnungsamt angezeigt; fünf Tage später wird sie dort genehmigt. Darüber, dass am Donnerstag auch die Bäume im Park fallen sollen, sei die Stadt Stuttgart "nicht informiert" gewesen, betont Alfons Nastold, Dienststellenleiter beim Ordnungsamt. In der Stellungnahme der Polizei, die das Amt einholt, heißt es zur Schülerdemo: "Keine konkreten Hinweise auf einen unfriedlichen Verlauf der Veranstaltung."

"Wir haben die Demo zwei Monate vorbereitet, Musiker und Redner organisiert", erzählt Evelyn Stojanova aus dem Organisationsteam. "Wir wollten die Veranstaltung wirklich durchziehen und unser Anliegen rüberbringen." Doch als am Donnerstag um 10.25 Uhr die Parkschützer eine Polizeikolonne sichten und die Alarmmeldung "Sofort alle in den Park" per SMS und E-Mail an Zigtausende Mitglieder absetzen, bricht alles auseinander. Zu viele junge Leute haben den Alarm selbst auf ihr Handy erhalten und stürmen los in Richtung Schlossgarten. Die Schülerdemo ist beendet, noch ehe sie richtig begonnen hat.

"Twitter, SMS und soziale Netzwerke spielen bei diesem Protest eine erhebliche Rolle, das ist auch für uns eine neue Herausforderung", räumte Stumpf am Freitag ein. Weil auch große Menschenmassen sekundenschnell und zeitgleich mobilisiert werden könnten, sei es "sehr schwer, Veranstaltungen zu berechnen". In Beamtenkreisen heißt es, Stumpf hätte allein wegen dieses Unsicherheitsfaktors dafür sorgen müssen, dass die Schülerdemo am Donnerstag nicht genehmigt wird - was rechtlich schwierig gewesen wäre -, oder aber er hätte die Zaunaufstellaktion einige Tage verlegen müssen. "Dem standen wohl politische Wünsche entgegen", deutet ein Polizeibeamter an.

Vor allem die jungen Leute von der Schülerdemo sorgten bis gegen 12 Uhr mit vielen Sitzblockaden dafür, dass das Aufstellen der Polizeigitter verzögert wurde. Dadurch konnten noch mehr Demonstranten nachrücken und den Polizeikonvoi vollends einkeilen. Die Polizei braucht jetzt härtere Methoden. Sie setzt nach eigenen Angaben um 12.20 Uhr erstmals Pfefferspray ein. Kurz vor 13 Uhr tritt der erste Wasserwerfer in Aktion. Souverän wirkt beides nicht.

Kommunikationspanne zwischen Polizei und DRK

Hinzu kommt eine schwerwiegende Kommunikationspanne zwischen Polizei und Rettungsdienst. DRK und Feuerwehr waren über den Großeinsatz gar nicht informiert. "Das macht man nur, wenn Einsätze als kritisch eingestuft werden", so Stumpf. Man habe bei dieser Einsatzplanung aber nicht mit Gewalt und Verletzten gerechnet.

Allerdings unterblieb der Kontakt zu den Rettungskräften noch mindestens eine halbe Stunde nach den ersten massiven Einsätzen mit Pfefferspray - spätestens da hätte die Einsatzleitung aber mit Verletzten unter den Demonstranten rechnen müssen. "Kenntnis von den Vorgängen haben wir nicht von der Polizei, sondern von einer Rettungswagenbesatzung erhalten, die zufällig wegen eines anderen Notfalls in der Nähe war", berichtet DRK-Sprecher Udo Bangerter. Dies sei um 12.56 Uhr gewesen. Daraufhin habe man sofort "die eigenen Kräfte hochgefahren" und vier bis sechs Rettungswagen geschickt.

Erst dann kommunizieren am Donnerstag Polizei-Lagezentrum und Rettungsdienstleitstelle miteinander. "Wir haben aus dem Stand heraus handeln müssen", sagt Feuerwehrchef Frank Knödler: Ein Großraum-Rettungstransportwagen wird losgeschickt. Die erste Schnelleinsatzgruppe des Roten Kreuzes stellt beim Café am See ein Behandlungszelt auf - und wird später von Dutzenden Verletzten überrollt. Am Ende sind gut hundert Rettungskräfte und acht Notärzte im Einsatz. "Mehr Planungszeit wäre sicher hilfreich gewesen", meint DRK-Sprecher Bangerter. Kritik an der Polizei gibt es indes nur hinter vorgehaltener Hand: "Das wird", heißt es, "in einer Nachbesprechung aufgearbeitet werden müssen."

Stumpf und Rech berichten am Freitag, die Polizei sei von der Hartnäckigkeit der Proteste und der Aggressivität mancher Demonstranten überrascht gewesen. "Das sind gänzlich neue Dimensionen", meint Rech. Er bedauere es, dass es zu vielen Verletzten auf beiden Seiten gekommen sei. Es werden 29 Festnahmen sowie 15 relevante Straftaten gegen Polizeibeamte gezählt.

Stumpf betont, man seit 40 Jahren ohne Wasserwerfer in Stuttgart auskomme. Den "Grundsatzbeschluss", die schweren Geräte dieses Mal einzusetzen, habe er selbst getroffen: "Aus polizeilicher Sicht liegt der Wasserwerfer in seiner Intensität unterhalb von Schlagstock und Pfefferspray." Beim Einsatztermin am Donnerstag, 10 Uhr, sieht Stumpf keine Fehler. "Es wäre", sagte er auf Nachfrage unserer Zeitung, "auch an jedem anderen Tag zu Demonstrationen gekommen - auch mit jungen Leuten."