Schutzbedürftig: Mauereidechse im Freilandgehege bei Esslingen. Foto: Michael Steinert

Hier der öffentliche Auftrag, das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm zu bauen. Dort das Gesetz, bedrohte Eidechsenarten zu schützen. Bahn und Behörden ringen um den richtigen Mittelweg.

Stuttgart/Wendlingen - Vertriebene, wohin man schaut. Manche sonnen auf Steinen oder Sandflächen, andere finden Ruhe unter Totholzstapeln. Sie ahnen nicht: Kaum einer von ihnen wird die Heimat wiedersehen. Das ist allenfalls ihren Nachkommen vergönnt.

Schließlich haben die etwa 500 Mauereidechsen, die 2014 und 2015 im Bereich der Gleiszuführung von Ober- und Untertürkheim zum künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof eingesammelt und auf Zeit in ein Freilandgehege unter der Körschtalbrücke bei Denkendorf umgesiedelt wurden, eine Lebenserwartung von etwa sechs Jahren. Treten die Verzögerungen bei der Fertigstellung des Bahnprojektes Stuttgart–Ulm tatsächlich ein, mit denen die Deutsche Bahn (DB) inzwischen kalkuliert, werden die streng geschützten Reptilien ihre Tage in der Anlage beschließen. Spötter nennen sie in Anspielung auf Steven Spielbergs Saurier-Film „Deutschlands größten Jurassic Park“.

Immerhin: Was der Leitfaden für die „Praxisorientierte Umsetzung des strengen Artenschutzes von Zaun- und Mauereidechsen“ der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg als Komfortanspruch dieser Tiere in der sogenannten Zwischenhälterung formuliert, ist beachtlich. An ihm orientieren sich Landesministerien, Regierungspräsidium und Umweltverbände, die an den Genehmigungsverfahren für die Bauabschnitte des Bahnprojekts beteiligt sind.

Teurer Service

Eine Voraussetzung für die Auswahl solcher Ausweichflächen ist: Mauereidechsen müssen sie mögen. Es dürfen dort aber noch keine Mauereidechsen leben. Und auch keine ebenfalls streng geschützten, ums Futter konkurrierenden Zauneidechsen. Was sonst noch zu berücksichtigen ist, lässt sich unter der Körschtalbrücke besichtigen: Über der Anlage wölben sich Netze zur Abwehr von Greifvögeln. Ein Edelstahlblech-Zaun, 70 Zentimeter hoch und 80 Zentimeter ins Erdreich ragend, hält rund um das 3655 Quadratmeter große Gelände die Feinde der Mauereidechsen am Boden fern. Schotter, Pferdemist, Sträucher, eingesäte Grünflächen, dazu Steinhaufen und Sandinseln sollen den Vertriebenen die Zwischenheimat so wohnlich als möglich machen.

Dazu kommt der Service. Solange die Tiere nicht Winterschlaf halten, sieht die Ökologische Baubegleitung, das sind Experten der DB und externe Dienstleister, nach dem Rechten. Wöchentlich prüfen sie die Gesundheit der Tiere und halten die Anlage in Schuss. Verfüttern bei Bedarf Heimchen und Mehlwürmer an die Eidechsen. Und verfassen die vielen, vom Artenschutzgesetz vorgeschriebenen Berichte an Aufsichtsbehörden.

Der Erfolg ist nicht zu übersehen: „Wir finden selten Schwanzteile. Das ist ein sicheres Zeichen, dass die Tiere in dieser Umgebung nicht unter Stress stehen“, sagt Stephan Blum, Projektingenieur Natur- und Artenschutz der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH, mit Stolz.

Bahn findet keine Ausweichflächen

Aber im „Jurassic Park“ ist es ein bisschen wie in der Hotellerie: Hoher Standard hat seinen Preis. Rund 1,5 Millionen Euro veranschlagt die DB für das Areal bei Denkendorf, 300 000 Euro davon für den Bau. Noch mehr für die Sicherung der abgeräumten Flächen gegen die Besiedlung durch andere Mauereidechsen, die wiederum in Gefahr geraten würden, sobald der Bau beginnt. Flächenpacht und die Kosten für das wissenschaftliche Monitoring stecken ebenso in dem 1,5-Millionen-Euro-Paket. Auch die Ausgaben für das Einsammeln – mit dem Eidechsenlasso und so ausgeführt, dass die Tiere nicht in Panik geraten, selbst für Könner eine zeit- und personalaufwendige Aufgabe.

Noch stärker als die unmittelbaren Aufwendungen schlagen die Auflagen des Artenschutzes für die Steuerzahler – die Bahn ist eine 100-Prozent-Tochter des Bundes – indirekt zu Buche. Durch Bauverzögerungen, die eintreten, entweder weil die DB länger als geplant braucht, Auflagen zu erfüllen, oder weil sich die Genehmigungsbehörden in Landesregierung, Regierungspräsidium Stuttgart oder Eisenbahnbundesamt mit Genehmigungen schwertun. Solche Verzögerungen treiben die Kosten. Etwa weil Baufirmen ihre Kapazitäten bereit- und in Rechnung stellen, diese aber nicht zum Einsatz kommen. Zu den Folgekosten gehört auch: Baustellen bleiben länger als geplant Baustellen mit allen Zumutungen für Anwohner und Pendler.

Selbst nach der Untersuchung von rund 200 Ausweichflächen für bis zu 6000 Mauereidechsen im Bauabschnitt des Abstellbahnhofs – ohne ihn wäre S 21 nicht zu betreiben – hat die Bahn keine gefunden, die den Auflagen des Landes entspricht. Mit dem Bau der bereits genehmigten sogenannten Interregio-Kurve für die kreuzungsfreie Verbindung des Stuttgarter Bahnhofs in Richtung Murr- und Remsbahn könnte sie beginnen. Allein, für die dort lebenden rund 1000 Mauereidechsen fehlen Ersatzflächen.

Das heizt die Debatte neu auf: Wie viel Artenschutz verträgt S 21? Bahn und Genehmigungsbehörden ringen um angemessene Antworten.

Gentests an Mauereidechsen

In Gesprächen mit Vertretern der Bahn zeichnet sich die Sichtweise ab: Die Beamten in den Genehmigungsbehörden sind verunsichert durch die Klageflut, die das Projekt Stuttgart–Ulm begleitet. Mit der Folge, dass sie beim Artenschutz immer vom größten Risiko für die Tiere ausgehen, dass sie Ermessensspielräume, die auch Artenschutzgesetze zulassen, ungenutzt lassen.

In Gesprächen mit ranghohen Vertretern des Staats-, des Verkehrs- oder des Umweltministeriums zeichnet sich ab: Die sehen das ähnlich. Die Landesregierung verweist aber darauf, dass Verstöße gegen den in EU-Recht verankerten Artenschutz Straftaten sind. Es liege an der Bahn, zum Beispiel für den Bauabschnitt des Abstellbahnhofs rechtssicher nachzuweisen, dass es tatsächlich keine Ausweichflächen für die bis zu 6000 Mauereidechsen gibt, die dort leben.

Was mitunter allerdings beim besten Willen schwierig wird. Mauereidechsen aus diesem Bauabschnitt wurden Gentests unterzogen. Die haben offenbart: Mit Güterzügen aus Italien nach Stuttgart gelangte Tiere haben sich munter mit ihren schwäbischen Artgenossen vermischt. Was unter Experten Streit entfacht: Verdienen auch Einwanderer und die Sprösslinge dieser Verbindungen Artenschutz?

Solche Debatten können sich ziehen. Eindeutig ist zumindest die Sicht des Umweltministeriums: „Sowohl einheimische als auch zugewanderte Mauereidechsen unterfallen dem Artenschutz“, sagt ein Sprecher.

So sieht es auch Hans-Peter Kleemann, stellvertretender Vorsitzender des Nabu Baden-Württemberg. Er räumt aber ein, dass dies nicht die offizielle Meinung seines Naturschutzverbandes sei. Der hat keine. Zu weit lägen die Meinungen in den eigenen Reihen auseinander. Das hat Bedeutung. Schließlich gehört der Nabu zu den Trägern öffentlicher Belange, auf die das Regierungspräsidium im Genehmigungsverfahren hört. Einigkeit, unterstreicht Kleemann, bestehe im Verband, keine Abstriche am Eidechsen-Schutz hinzunehmen. Hoffnungen der Bahn auf die rasche Lösung zerstreut er: „Bis der Nachweis erbracht ist, dass eine Ausweichfläche von den Tieren angenommen wird, sind drei Jahre schnell weg.“

Die feine Ironie der S-21-Arbeiter

2018 will die Bahn aber den neuen Abstellbahnhof bauen. Jetzt kann sie wegen fehlender Ausweichflächen noch nicht einmal den Genehmigungsantrag stellen. Im Bereich des Albvorlandtunnels wird sie mindestens weitere sieben Monate verlieren, das steht seit wenigen Tagen fest. Grund: Mit dem Regierungspräsidium gibt es weiter Differenzen, wie viel Raum Zauneidechsen auf Ausweichflächen zusteht. Selbst wenn es bald zur Einigung käme – vor Ende der Winterschlafperiode im April kann keine Umsiedlung mehr beginnen.

Ingenieure und Bauarbeiter im Bahnprojekt Stuttgart-Ulm reagieren auf so etwas zuweilen mit feiner Ironie. Über dem Freisitz für Grill und Feierabendbier bei ihrer Container-Siedlung am Pragsattel in Stuttgart prangt ein Schild „Käfer-Stübchen“. Ein Schelm, wer dabei an den Juchtenkäfer und die Anstrengungen denkt, den sein Schutz den S-21-Bauern und den Steuerzahlern auferlegt hat. Bleiben die Fronten in Sachen Mauer- und Zauneidechse hart wie bisher, entsteht neben dem „Käfer-Stübchen“ womöglich bald ein „Reptilien-Eck“.