Die Gewerkschaftsmitglieder sind zu über 90 Prozent für einen unbefristeten Streik Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Der Streik in Kitas und anderen Betreuungseinrichtungen zwingt Eltern zu organisatorischen Höchstleistungen oder zu ungeplantem Urlaub. Noch haben sie Verständnis, aber hält das an?

Stuttgart - Daniel Nwobi hat vor nichts Angst. In seinen großen Händen verschwinden die kleinen Finger seiner Tochter förmlich. Am Mittwoch aber hat er eine regelrechte Horrorvision: Er an der Maschine in der Werkshalle, und zwischen den Geräten spielt seine Tochter. „Ihre Mutter arbeitet auch“, sagt er, und zeigt auf das Kind. „Wohin soll sie denn sonst, wenn die Kindertagesstätten geschlossen sind?“, fragt der 36-Jährige ratlos.

Bereits an diesem Freitag trifft der Streik Kitas, Schülerhäuser und Grundschulen in Stuttgart, am Montag streiken auch die Städte und Gemeinden in den Landkreisen Ludwigsburg, Böblingen und Rems-Murr.

Der athletische Mann in Jogginghosen steht schulterzuckend vor der städtischen Kita in der Robert-Koch-Straße im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen, der wie vielen anderen die Schließung droht. 96 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und 93 Prozent bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi haben sich bei einer Urabstimmung für unbefristete Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst der Kommunen ausgesprochen.

Auch wenn Nwobi ratlos ist, hat er Verständnis für die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen. „Streiken ist ihr gutes Recht“, findet er. Eine Haltung, die von den meisten Kita-Eltern in Vaihingen geteilt wird. „Ich habe Verständnis für den Streik“, sagt Nicole Oster, obwohl auch sie der Arbeitsausstand herb trifft. Sie und ihr Mann sind selbstständige Ärzte, „mein Mann hat keinen Partner in seiner Praxis. Er kann sie ja nicht einfach zumachen“, sagt die 39-Jährige.

Eine leise Hoffnung hatte Nicole Oster in die nicht gewerkschaftlich organisierten Erzieherinnen gesetzt, darauf, dass zumindest einige wenige Gruppen in der Tagesstätte betreut werden können. Doch in der Kita würde ein Schreiben hängen, das auch diese Frauen zur Beteiligung an dem Streik aufrufe. „Vor allem für alleinerziehende Mütter ist es wichtig, dass eine Grundversorgung für die Kinder gewährleistet ist“, findet sie.

Das sieht auch Simone Letsch so, die das Glück hat, dass die Großeltern ihrer Kinder in der Region leben und ihr viele Freiheiten vom Arbeitgeber gelassen werden: „Für uns ist der Streik kein großes Problem, aber andere Eltern gehen auf dem Zahnfleisch.“

Heute sind die Erzieherinnen noch im Einsatz, beispielsweise die Gruppenleiterin Nese Yesilok. Sie ist in einer städtischen Kindertagesstätte in Stuttgart-Steinhaldenfeld für den Bereich Forschung zuständig. Die beiden Freunde Florian und Julian, beide sechs Jahre alt, wollen wissen, was in einer alten Stereo-Kompaktanlage drin ist. Florian macht sich mit einem Schraubenzieher an der Seitenwand zu schaffen, während Julian eine Funktionstaste nach der anderen löst. Vorspul- und Rückspultaste liegen schon auf dem Tisch, jetzt will er die Aufnahmetaste raushebeln. Florian bittet ihn um Hilfe: „Du musst hier drücken“, sagt er, und gemeinsam schaffen sie es, das Gehäuse zu öffnen. „Guck mal, da ist ja ganz wenig drin!“, ruft Florian, und auch Julian staunt.

Nese Yesilok ist seit 20 Jahren im Beruf. Neugierig Sachen zerlegen, das war früher nicht drin. „Meine erste Fortbildung war ein Versuch; es ging um die Frage, wie kommt eine Kita ohne Spielsachen zurecht?“, sagt die 43-Jährige, „heute experimentiere ich mit den Kindern und erforsche mit ihnen zum Teil auch Dinge, die mir selbst neu sind.“ Früher habe sie sich für den morgendlichen Stuhlkreis nur ein Lied ausdenken müssen, heute nutze sie die Vorbereitungszeit, um klare Pläne aufzustellen. Sie sitzt beim Mittagessen dabei, saugt die Pfützen umgefallener Gläser auf, wischt Püree-Kleckse von rosa Kleidchen und erzählt eine spannende Geschichte, wenn die Unruhe im Esssaal zu groß wird. Ihr selbst steht eine halbe Stunde Mittagspause zu, danach ist sie für die Hortkinder aus der benachbarten Schule zuständig, um 17 Uhr ist Feierabend.

Zweimal pro Woche sitzt Nese Yesilok vor dicken Ordnern. Portfolio nennt sich die Kladde, die für jedes Kind angelegt ist. „Ich beschreibe, womit sich das Kind beschäftigt und welche Entwicklung es durchläuft. Darüber rede ich zwei Mal im Jahr mit den Eltern.“ Auch das gab’s vor 20 Jahren nicht.

Die Ansprüche, die Eltern heute an Bildung und Erziehung stellen, sind hoch. Deshalb haben die Erzieherinnen momentan noch mehrheitlich die Öffentlichkeit auf ihrer Seite. „Die Öffentlichkeit sympathisiert mit den Forderungen der Erzieherinnen, sogar noch mehr als 2009“, sagt der Erlanger Soziologe Stefan Kerber-Clasen, der zum Thema Arbeitskämpfe im Erziehungsbereich forscht. Allerdings können die Sympathien bei einem langen Streik auch ins Gegenteil umschlagen.

Denn für die Eltern bedeutet Kita-Streik Stress im Beruf. Sie müssen kurzfristig eine Kinderbetreuung finden, Termine verschieben, Schichten tauschen, Urlaub nehmen. Stress, den die Beschäftigten vor Augen haben. „Streit mit den Eltern war im Jahr 2009 sehr belastend für die einzelnen Erzieherinnen und Erzieher“, sagt Kerber-Clasen. Nach wochenlangen Streiks gab es irgendwann sogar Gegendemos der Eltern. Da hieß es dann auf Plakaten: „Kleine Kinder weinen still, weil Verdis starker Arm es will“.

Den ethischen Konflikt, Unbeteiligten zu schaden, gibt es immer im Dienstleistungsbereich, „im Sozialen natürlich besonders“, sagt Achim Meerkamp, Bundesvorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Verdi. „Das kann aber nicht heißen, dass sich Beschäftigte deshalb grundsätzlich mit zu niedrigen Löhnen und geringen Karrierechancen abfinden müssen.“ Verdi habe sich diesmal früh mit Elternvertretern zusammengesetzt, um Lösungen für diese Konflikte zu finden und außerdem Informationen über Streiktermine so rechtzeitig bekannt gegeben, „dass Eltern sich vorbereiten können“.

In den vergangenen Streikphasen hatten die Gewerkschaften sich auf Notdienste verständigt, auch für diesen Streik signalisiert Verdi Einverständnis: „Wo es möglich ist, werden Notdienstvereinbarungen mit den kommunalen Arbeitgebern getroffen“, heißt es am Mittwoch in einer Pressemitteilung.

In der Landeshauptstadt haben die Verhandlungen über Notdienste bereits am Mittwochabend begonnen. Wie das Jugendamt verlauten ließ, habe man sich auf Notdienste in 15 Kitas mit insgesamt 17 Gruppen für jeweils 18 Kinder geeinigt. Darüber hinaus bietet die Stadtverwaltung ihren Mitarbeiter die Möglichkeit, ihre Kinder zur Arbeit mitzubringen, falls die Familie keine alternativen Betreuungsangebote zur Verfügung hat.

Finanziell profitieren die Kommunen zunächst von dem unbefristeten Streik. Die Personalkosten der streikenden Erzieher zahlt die Streikkasse der Gewerkschaften, an jedem Streiktag werden also Gehälter gespart. Die Kita-Gebühren werden den Eltern trotzdem abgebucht – ob die Kita geöffnet hat oder nicht. So wie in Stuttgart wurden Gebühren während des Kita-Streiks im Jahr 2009 auch von anderen Kommunen zwar zurückerstattet, „rechtlich geklärt ist die Frage aber nicht“, sagt Norman Heise von der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen. In vielen Kitas informierten die Träger die Eltern bereits darüber, dass bei Streiks kein Anspruch auf Rückerstattung der Gebühren bestehe mit der Begründung, die Arbeitsniederlegung sei „höhere Gewalt“. Wie lange diese währt, soll heute bekannt werden. Bis zum Wochenende? Oder bis Pfingsten? Für Daniel Nwobi der blanke Horror.