Judika Zerrer hat in der ägyptischen Hauptstadt Kairo mehr als 500 Fotos von politischen Wandzeichnungen gemacht Foto: Gottfried Stoppel

Judika Zerrer hat sich in ihrer Bachelorarbeit an der Stuttgarter Merzakademie mit politischen Graffiti in Kairo beschäftigt. Aus dem 170-seitigen Werk soll nun ein Buch entstehen.

Korb - Es scheint ein harmloses Motiv zu sein: Ein Jugendlicher beißt in ein gefülltes Brot. „Wenn man aber die Geschichte dahinter erfährt, dann bekommt dieses Bild eine ganz andere Qualität“, erzählt Judika Zerrer. Der junge Ägypter lebt nicht mehr.

Erst wurde sein Bruder bei einer Demonstration getötet, dann hat es den 14-Jährigen selbst erwischt. Das Wandgemälde ist in Kairo zu sehen und soll an sein Märtyrertum erinnern. An der Mohamed-Mahmoud-Straße, die vom Tahrirplatz in Richtung Innenministerium führt, wird auf diese Weise an 79 Menschen gedacht, die während der Demonstrationen in Kairo getötet wurden. „Es gibt auch anderswo auf der Welt beeindruckende Streetart, die eine Ästhetisierung des öffentlichen Raums zum Ziel hat. Aber mir hat die politische Botschaft gefehlt“, sagt Judika Zerrer.

Die junge Frau aus Korb hat bis vor kurzem visuelle Kommunikation an der Merzakademie in Stuttgart studiert. Als sie im vergangenen Jahr überlegt hat, worüber sie in ihrer Bachelorarbeit schreiben soll, hat sie sich an Fotografien von Graffiti im chilenischen Valparaiso erinnert, die sie dort vor vier Jahren gemacht hat. Hinzu kam, dass sie sich zu der Zeit sehr für die Konflikte in der arabischen Welt zu interessieren begann.

„Mich mit der Streetart in Kairo zu beschäftigen, war eine Mischung aus beidem“, erzählt die 29-Jährige. Beeindruckt hat sie vor allem die Bedeutung der Bilder: „Ein Künstler hat mir erzählt, dass die Graffiti die Wandzeitung der Revolution ist. Es gibt sonst eigentlich keine andere Möglichkeit, sich zu artikulieren“, sagt Zerrer.

Straßenkunst in Kairo auch ein junges Phänomen

Eine freie Meinungsäußerung sei in Ägypten nicht möglich, das Pressesystem werde von der Regierung kontrolliert. Deswegen sei die Straßenkunst in Kairo auch ein relativ junges Phänomen: „Diese Graffiti sind mit der Revolution entstanden, also vor allem seit 2011.“ In ihrer Bachelorarbeit hat Judika Zerrer ausschließlich die Motive abgebildet, die sie selbst in Kairo fotografieren konnte. Im vergangenen November war sie eine Woche lang in der ägyptischen Hauptstadt, um Interviews mit sechs Künstlern zu führen. „Und dann bin ich einfach mit meiner Kamera losmarschiert“, erzählt sie.

Dabei musste sie zum einen feststellen, dass es viele Graffiti, die sie in ihrer Vorrecherche entdeckt hatte, nicht mehr gibt. „Sie werden immer wieder übermalt, da sie regimekritische Botschaften enthalten“, sagt sie. Zum anderen erfuhr Judika Zerrer auch persönlich, dass die Regierung wenig Interesse daran hat, dass die Graffiti und ihre Aussagen nach außen getragen werden. „Es war viel Polizei unterwegs. Manchmal hat schon ein Blick gereicht, und ich wusste, dass ich die Kamera lieber in der Tasche lasse. Und einmal hat man mich auch aufgefordert, den Chip zu löschen“, erzählt sie.

"Vieles hat mir der Hausmeister der Uni übersetzt"

Manche Straßen seien abgeriegelt gewesen, so dass sie diese gar nicht habe besuchen können. „Jeden Tag habe ich mehr Panzer und Polizei gesehen, weil kurz nach meiner Abreise eine große Demonstration der Muslimbrüder stattfinden sollte.“

Trotzdem ist sie mit einer stattlichen Ausbeute von 500 bis 600 Bildern nach Hause gekommen. Die arabischen Schriftzeichen hat sie sich zum Teil von den Künstlern übersetzen lassen. „Vieles hat mir auch der Hausmeister der Uni übersetzt, der aus Kairo stammt und große Freude daran hatte“, wie sie erzählt. Beeindruckend fand die Studentin neben den politischen Botschaften, dass häufig Bezüge zur ägyptischen Geschichte hergestellt werden. Zerrer: „Immer wieder findet man altägyptische Symbolik. Oder religiöse Zeichen – eine Sichel und ein Kreuz, die sich umarmen.“

Aus den Interviews, den Graffiti und Informationen zur Streetart in Kairo ist ein stolzes Werk mit etwa 170 Seiten geworden. Bisher hat Judika Zerrer nur wenige davon drucken lassen. „Aber die Merzakademie versucht, einen Verlag zu finden“, erzählt sie. Das Gestalten des Buches hat ihr so viel Spaß gemacht, dass sie wahrscheinlich in dieser Richtung weitermachen möchte. „Ein paar Ideen habe ich schon. Am liebsten möchte ich noch einmal reisen und dann ein weiteres Buchprojekt angehen.“