Schneidler, Ohne Titel Foto: Akademie der Bildenden Künste Stuttgart

Um Radierungen aus dem Umkreis der Stuttgarter Kunstakademie geht es zurzeit in Bietigheim-Bissingen – in der Ausstellung „Die Schärfe der Bilder“ und in Workshops, die nicht nur für Kinder lehrreich sind.

Was hat eine Radierung mit dem Radiergummi zu tun? Natürlich nichts, liebe Kinder. So heißt nur eine grafische Technik, bei der man keineswegs eine misslungene Zeichnung tilgen will. Ganz im Gegenteil: Da werden Striche und Linien mit einer Nadel in Metallplatten gekratzt, die danach beim Druck dauerhaft, wenn auch spiegelverkehrt, aufs Papier gelangen. Und weil da nicht wie beim Stempeldruck die erhabenen Stellen Spuren hinterlassen, sondern die in die Platte eingegrabenen, heißt das Verfahren auch Tiefdruck.

Was die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen derzeit parallel zu ihrer aktuellen Ausstellung Kindern und Jugendlichen in Sommerferienworkshops nahebringt, weitet aber beileibe nicht nur den Horizont Heranwachsender. Oder würde jemand ernsthaft behaupten wollen, dass eine Ausstellung „Die Radierung im Umkreis der Stuttgarter Akademie“ je als Thema aufgegriffen und dazu ein ähnlich reichhaltiges Panorama historischer wie auch aktueller Beispiele präsentiert hätte?

Auch im 20. und 21. Jahrhundert ist die Radierung populär

Unter dem Titel „Die Schärfe der Bilder“ präsentiert die Schau mehr als 150 Blätter von über hundert Künstlern, die als Lehrende oder Lernende mit der Kunstakademie zu tun hatten.

Tatsächlich zerstreut die Schau die verbreitete Befürchtung, innovative Medien würden den hergebrachten über kurz oder lang den Garaus machen und sie verdrängen. Nachdem um 1500 der Buchdruck im Verein mit dem Kupferstich dem Abendland medialen Schub verlieh, haben Jacques Callot und Rembrandt und später Francisco Goya mit der Radierung neue Wege gewiesen, die Welt mit grafischen Mitteln ins Bild zu setzen, ehe im 19. Jahrhundert die Lithografie und im 20. dann industrielle Drucktechniken die Führungsrolle übernahmen. „Die Schärfe der Bilder“ lässt aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich Künstler von den Möglichkeiten der Radierung auch im 20. Und 21. Jahrhundert ungeschmälert inspirieren ließen. Und für die Professoren und Studenten der Stuttgarter Akademie gilt das ganz besonders.

Kriegsbilder und Lichteffekte

Indes drückt der Zeitgeist Bildern gleichwohl seinen Stempel auf. Wie Judith Lenz mit kalter Nadel und Strichätzung 2009 eine Mutter und ihr kleines Söhnchen gegeneinander Krieg führen lässt, hätten sich unsere Großeltern so nicht vorgestellt. Der Kleine zielt mit seinem zum Schießeisen verlängerten Pimmel auf die Mama, die ihrerseits die rechte, zum Gewehr ertüchtigte Brust auf den Knirps anlegt. Wie friedlich müssen doch Künstler ihre Gegenwart empfunden haben, als sie wie Gustav Schönleber 1895 „Cypressen“ an südlichen Gestaden schilderten oder wie Bernhard Pankok 1902 die Lichtreflexe um eine idyllisch gelegene „Wassermühle“ studierten. So verrät der von Carlos Grethe 1897 meisterlich inszenierte „Hafen“ mit im Gegenlicht blitzenden Wellen und der sich im Dunst verlierenden Ferne alles über die subtilen Möglichkeiten der Aquatinta, aber noch nichts über die bevorstehende Moderne.

Die kündigt sich mit der Wahrnehmung der Welt der Arbeit an. Rudolf Schlichter, der anfangs in Stuttgart studierte, Mitbegründer der Gruppe Rih wurde und sich in Berlin der Novembergruppe und den Dadaisten anschloss, hatte für leichte „Mädchen“ etwas übrig, er nahm sie ernst. Rolf Nesch dokumentierte 1925 das „Hüttenwerk Wasseralfingen“, Paul Kälberer im selben Jahr einen „Steinbruch bei Untertürkheim“, und Reinhold Nägele beobachtete 1932 „Sandschipper“ bei Ascona. Doch schon 1918 trägt ein „Abstraktes Porträt mit Vögeln“ von Ernst Schneidler Züge kubistischer Neuerungen. Die kommen als abstrakte Elemente bei Willi Baumeister 1943 erst recht zum Zug („Mykene“). Und von 1969 stammt eine „Liegende Figur“ von Rudolf Hoflehner, die wie auf einem Hometrainer mit den Beinen strampelt, anscheinend rumpf- und kopflos, aber unverdrossen.

Köpfe, Wände, Duschen

Vollends in Fahrt gerät „Die Schärfe der Bilder“ auf einer unbetitelten Farbradierung in vier Farben von drei Platten bei K. R. H. Sonderborg, der für sein Tempo berühmt wurde. Ordentlich Schwung geholt hat auch Walter Stöhrer bei einem „Kopf“, der seine Not hat, sich bei solcher Dynamik nicht zu verlieren. Von Paul Uwe Dreyer fällt eine frühe Arbeit von 1963 auf, wo „Wände“ noch etwas wackeln. Ganz unbeweglich und still lässt jemand bei Jürgen Brodwolf „Die Dusche“ (1971) über sich ergehen. Der ist sichtlich nicht zu trauen.

Im Jahr darauf ist Alfred Hrdlicka „Das Atelier“ nicht ganz geheuer, wo ihm seine eigenen Geschöpfe, so scheint es, über den Kopf wachsen. Erhebliches Misstrauen wecken auch das „Biologische Institut“ von Moritz Baumgartl oder das „Tierexperiment am Gehör des Affen“ von Alexander Roob, wohingegen man den aufs Autodach statt in den Tank gepackten „Tiger“ (1972) von Peter Grau amüsiert zur Kenntnis nimmt.

Gezeigt werden viele bislang unbekannte Bilder

Sehenswert ist die Bietigheimer Ausstellung nicht zuletzt deshalb, weil sie sehr viele unbekannte, kaum je gezeigte Blätter präsentiert. Bedenklicher noch, doch umso mehr zu loben ist der Umstand, dass da „auch Radierungen von zu Unrecht Vergessenen aus allen Epochen“ (Pressetext) zum Zug kommen. Allzu viele ließen sich da aufzählen wie Gunther Böhmer, Roland Dörfler, Gottfried Graf, Gunter Böhmer, Felix Hollenberg, Hans Meid, Jürgen Palmtag, Volker Sammet, Christoff Schellenberger, Günter Schöllkopf, Rudolf Schoofs, Heinz Trökes, Alfred Wais und Heinrich Wildemann, um nur einige zufällig herausgegriffene Namen zu nennen. Was da verloren zu gehen droht, macht eine Kaltnadelradierung von Günter Schöllkopf deutlich: „Byron durchschwimmt den Bosporus“ (1974) – und keiner erinnert sich daran.