Auf dem Weg zur S-Bahn unter der Klett-Passage hat sich ein 64-Jähriger im Schlossgarten in die Büsche geschlagen Foto: Lichtgut/Horst Rudel

Die Toiletten in der Stadt sind ein Dauerthema. Viele halten die Zahl für zu gering. Doch was passiert, wenn man vor einem besetzten Häuschen steht und dringend muss? Dann kann man vor Gericht landen. So geht es jetzt einem 64 Jahre alten Mann.

Stuttgart - Die Not ist groß an jenem Tag im August. Ein Mann aus dem Kreis Böblingen ist mit seiner Frau in der Stuttgarter Innenstadt beim Einkaufen. Auf dem Weg zur S-Bahn wird der Druck immer größer. „Ich nehme Medikamente und habe dadurch Blasenprobleme“, erzählt der 64-Jährige. Da muss rasch eine Toilette her. Der Rentner steuert ein Säulen-WC an der Klettpassage an. Doch das ist besetzt. Er wartet, bis er es nicht mehr aushält. „Zu einer anderen öffentlichen Toilette hätte ich es nicht mehr geschafft“, sagt er. In letzter Sekunde eilt er in den angrenzenden Schlossgarten und springt hinter ein Gebüsch.

Dabei wird er von der Polizei beobachtet. Als der Rentner fertig ist, sprechen die Beamten ihn an. „Ich habe ihnen die Situation erklärt, aber sie waren nicht bereit, es bei einer mündlichen Verwarnung zu belassen“, erzählt er. Kurz darauf flattert ein Bußgeldbescheid der Stadt in Höhe von 35 Euro ins Haus.

Es folgt ein längerer Schriftwechsel mit der Bußgeldstelle. „Es wird behauptet, ich hätte meine Notdurft auf der Straße verrichtet“, ärgert sich der Rentner. Dabei habe er ein fast blickdichtes Gebüsch gewählt. Auf die besonderen Umstände und seine gesundheitliche Situation sei nicht eingegangen worden. Der Mann legt Widerspruch ein und bietet an, 15 Euro zu bezahlen, um guten Willen zu beweisen und eine geringe Mitschuld einzuräumen.

Doch die Stadt bleibt hart. Deshalb wird es in dieser Woche zu einem Termin vor dem Stuttgarter Amtsgericht kommen. „Mit den Gebühren, die inzwischen dazugekommen sind, soll ich jetzt über 60 Euro bezahlen“, sagt der 64-Jährige – und kritisiert die Stadt für ihren Umgang mit kranken Menschen und die Toilettenlage insgesamt.

Zum speziellen Fall will man beim Ordnungsamt „wegen des laufenden Verfahrens“ keine Stellung nehmen. Allerdings räumt ein Sprecher ein, dass es sehr selten sei, dass so eine Geschichte vor Gericht gehe – wenn es das überhaupt schon einmal gegeben hat. Laut Polizeiverordnung sei das Urinieren auf der Straße und in öffentlichen Parkanlagen verboten. Der Tatbestand sei erfüllt, man prüfe aber durchaus besondere Umstände. „Die Frage aber ist: Wo zieht man die Grenze?“, so der Sprecher.

Nach Angaben des Ordnungsamts werden jedes Jahr in Stuttgart zwischen 150 und 200 Menschen für unerlaubtes Urinieren im öffentlichen Raum zur Kasse gebeten. Polizei und Vollzugsdienst der Stadt kontrollieren diesen Tatbestand im Rahmen ihrer normalen Tätigkeit mit. Besonders häufig erwischt es die Pinkelsünder rund um Weihnachtsmarkt und Volksfest.

Der Amtsgerichtsfall löst beim Stadtseniorenrat Kopfschütteln aus. Dort ist man aber auch generell mit der WC-Lage in der Stadt nicht zufrieden. Die hat sich in diesem Jahr eher noch verschlechtert. Laut einer Sprecherin des Eigenbetriebs Abfallwirtschaft Stuttgart gibt es derzeit im Stadtgebiet 69 öffentliche Toilettenanlagen. Vor einigen Monaten waren es noch 70, bis die Toilette am Rupert-Mayer-Platz unter der Paulinenbrücke weggefallen ist. Neue Anlagen sind derzeit nicht geplant. „Bei der Stadt geht es nur ums Geld“, kritisiert Renate Krausnick-Horst. Dabei müsste sich laut der Vorsitzenden des Stadtseniorenrats „einiges ändern. Die Lage ist in manchen Außenbezirken noch prekärer als in der Innenstadt.“

Der Stadtseniorenrat will deshalb demnächst mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Wo kann man in welchem Stadtteil auf die Toilette gehen? „Manche Lokale sind nicht kleinlich, viele weisen aber darauf hin, dass Toiletten nur für die Gäste da sind“, weiß Renate Krausnick-Horst. Die Idee der „netten Toilette“, bei der auch Geschäfte ihre WCs fürs Geschäft von Passanten öffnen, sei „irgendwie wieder von der Bildfläche verschwunden“. Und viele der städtischen Anlagen sind ihrer Meinung nach gerade für Senioren ohnehin ungeeignet: „Die automatischen Säulen, die schwierig zu bedienen sind, kommen bei Älteren nicht an. Davor haben sie Angst.“

Der 64-Jährige aus dem Kreis Böblingen zieht für sich ein bitteres Fazit: „Es gibt in dieser Sache keinerlei Fingerspitzengefühl. Alte und Kranke werden diskriminiert. Gesunde, junge, flexible und kaufkräftige Menschen werden dagegen in der City geschätzt.“ Ob es bei der Geldbuße für den Ausflug in den Schlossgarten bleibt, muss jetzt das Gericht entscheiden.

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