Auf der Suche nach dem Kind in sich: Die kanadische Tänzerin Sarah Murphy in dem Solo „Enfant“, das Joeri Dubbe für sie choreografierte Foto: Joris Jan Bos

Das Solo-Tanz-Theater-Festival bringt vom 17. bis zum 20. März 18 internationale Künstler in den Treffpunkt Rotebühlplatz. Helena Waldmann, Jurorin beim Festival, weiß, warum es manchmal der Sache dient, allein auf der Bühne zu sein.

Stuttgart - Frau Waldmann, Ihr jüngstes Stück „Made in Bangladesh“ setzt die Situation in den Textilfabriken Dhakas mit der Ausbeutung auf deutschen Tanzbühnen gleich. Wie waren die Reaktionen Ihrer Kollegen?

Meine Kollegen, die Tänzer, Schauspieler oder Sänger sind, haben sehr positiv reagiert. Die meisten sagten: Das stimmt eins zu eins, und sie haben sich gefreut, dass das endlich mal jemand so offen auf die Bühne bringt. Denn eigentlich darf man nicht sagen, dass die Bretter, die die Welt bedeuten, kein Geld bedeuten. Zu den Personen, die darauf stehen, soll man aufblicken. Da will man nicht wissen, dass der da oben eigentlich ein armes Würstchen ist. Manche Intendanten wollen die ausbeuterischen Verhältnisse, die an ihren Theatern herrschen, nicht öffentlich machen. Sie geben sich nach außen gern liberal und hängen entsprechende Plakate an ihr Theater; was in diesem passiert, ist aber diametral entgegengesetzt.
Der Tanz steht bei Einsparungen meist oben auf der Streichliste. Ist die Entscheidung für ein Solo-Stück, wie sie das Solo-Tanz-Theater-Festival versammelt, Ausweg aus der Fördermisere – oder ihre Zuspitzung?
Das ist für mich nicht die Frage. Bei bestimmten Themen ist ein Solo eben die richtige Entscheidung, die Wahl ist also inhaltlich gegeben. Außerdem sind es zwei verschiedene Dinge, ob ich mich selber ausbeute oder ob weitere Personen ins Spiel kommen. Für junge Künstler, die von der Choreografie bis zum Licht alles selber machen, ist ein Solo allerdings oft der einzige Weg, Kunst zu realisieren.
Wissen Sie schon, was Sie als Jury-Mitglied in Stuttgart erwartet?
Ja, ein super interessantes Programm, und ich bin froh, dass ich mich für diese Jury-Tätigkeit entschieden habe. Spannend ist dieses Solo-Tanz-Theater-Festival deshalb, weil man innerhalb kürzester Zeit erfahren kann, wo der Nachwuchs gedanklich steht. Die Liste der Themen, die in den Solo-Auftritten behandelt werden, ist beeindruckend: Es geht um Isolation, Demenz, Krieg, Flucht, Amok, ideologische Radikalisierung, das Sterben. Es macht mir schon im Vorfeld Spaß zu sehen, wie inhaltlich diese Soli gedacht sind. Das Gehopfe ist eindeutig vorbei.
Allein auf der Bühne: Das kann authentisch sein, aber auch Risiken bergen, oder?
Ganz ohne einen Mentor, der kritisch auf das Entstehende schaut, geht das nicht. Nicht jeder Tänzer ist in der Lage und hat die Kraft, ein Solo zu stemmen. Es braucht viel Ausstrahlung und Präsenz, damit das Publikum ein Solo wirklich sehen will. Viele Künstler haben eine Einschätzung von sich selbst, die nicht der Erwartung des Publikums entspricht.
Für Ihr Demenz-Stück „Revolver besorgen“ haben Sie die Form des Solos gewählt – warum?
Weil ich der Meinung war, dass diese Einsamkeit genau den Zustand trifft, wenn jemand ins Vergessen rutscht. Bei einem Duo hätte ich ein Gegenüber definieren müssen. Wer kann das sein, ein Familienmitglied? Dann wäre auch wichtig geworden, wie der andere sich fühlt. Mir ging es aber um den Prozess des Vergessens selbst: Wie ist es, wenn man von weit oben nach tief unten fällt. Deswegen habe ich mit der Darstellerin Brit Rodemund den klassischen Tanz als Form gewählt – von der Ballerina zur erbärmlichen Kreatur, das ist die maximale Fallhöhe.
Die Arbeit mit einem Ensemble liegt Ihnen aber näher . . .
Heute schon. Aber als ich angefangen habe, im Tanz zu arbeiten, habe ich zuerst auf Solo-Stücke gesetzt wie 1993 bei „Krankheit Tod“. Ich kam vom Schauspiel und hatte nicht den Mut, mit vielen Tänzern zugleich zu arbeiten. Ich musste erst herausfinden, wie ich die Tänzersprache überhaupt erlernen kann. Ein Solo war da ein guter Weg. Auch um herauszufinden, was ich mit welchem künstlerischen Medium, also wie, am besten ausdrücken kann.
Und Ihre neue Produktion. Wird die ein Solo?
Nein, es wird ein Stück für zwei Kompanien, die einander gegenüberstehen: eine zeitgenössische und eine aus dem Feld des Cirque Nouveau. Mir geht es um die Überwindung von Grenzen und Nationalismen. Wir erleben doch derzeit – mit großem Schreck – eine Wiedergeburt von Nationalstaaten in Europa. Ich bin entsetzt, wie die großartige Absicht der Gründungsväter der EU so in Vergessenheit geraten kann.

Helene Waldmann und das Solo-Tanz-Theater-Festival

1962 in Burghausen geboren, studierte Helene Waldmann von 1982 bis 1987 Angewandte Theaterwissenschaft an der Uni Gießen.

Seit 1992 inszeniert sie als freischaffende Regisseurin an verschiedenen Orten multimediale Theaterproduktionen, unter anderem 1997 „vodka konkav“, 2005 „Letters from Tentland“, 2014 „Made in Bangladesh“. Unter ihren Arbeiten finden sich auch Soli: 1993 „Die Krankheit Tod – An overhead show“, 1996 „Face  . . . à – An erotic phantasmagoria“, 1998 „Glücksjohnny – A boat movie“, 2010 „Revolver besorgen“. Erfahrungen als Jurorin hat Helena Waldmann zum Beispiel 2014 bei der Tanzplattform in Bern gesammelt.

Das 20. Solo-Tanz-Theater-Festival beginnt am 17. März im Treffpunkt Rotebühlplatz und zeigt an den ersten drei Abenden im Wettbewerb um 20 Uhr jeweils sechs Beiträge. Das Finale am Sonntag beginnt um 18 Uhr; an seinem Ende wird die Jury (Cristina Castro, Itzik Galili, Marco Goecke, Helena Waldmann und Samuel Wuersten) jeweils drei Preise für Tanz und Choreografie vergeben, das Publikum zwei Publikumspreise.

Bis zum 17. April ist die Ausstellung mit Bildern der Malerin Johanna Bosch-Brasacchio zu sehen. Sie hat für ihre „Tanzgeschichten“ Festivalteilnehmer in bunte Alltagsszenerien verpflanzt. (StN)