Mit Video-Umfrage - Er ist schlagfertig und kann sehr hart sein. Doch derzeit versucht sich Sigmar Gabriel als Kümmerer und Erklärer. Der Wirtschaftsminister will bei der stockenden Energiewende die Zahnräder besser ineinanderführen. Zugleich soll seine SPD wieder zu einer berechenbaren Partei des Vertrauens werden.

Stuttgart - Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ steht an diesem Mittwochabend im Konzerthaus der Landeshauptstadt nicht auf dem Spielplan. Wolfgang Molitor, der stellvertretende Chefredakteur unserer Zeitung, hat seinem Gast dennoch eine rote Rose mitgebracht. Fünf Jahre und 13 Tage ist Sigmar Gabriel jetzt Chef der Sozialdemokraten – und damit der am längsten amtierende SPD-Vorsitzende seit Willy Brandt. „Eine Rose ist besser als eine Nelke, das sieht immer so nach Beerdigung aus“, entgegnet Gabriel. Dass fünf Jahre SPD-Vorsitz schon als etwas Besonderes gelten, sei nicht ein Zeichen für seine Leistung, räumt er ein, „sondern für die Verrücktheit der SPD in den Jahren davor“.

Die 750 Gäste treibt die Neugier in die Liederhalle. Wie sieht der Parteichef seine SPD ein Jahr nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags? Welche Strategien entwickelt der Wirtschafts- und Energieminister, damit sich Energiewende und Klimaschutz vereinbaren lassen und dabei die Strompreise im Rahmen bleiben?

Gabriel, der schon zum zweiten Mal Gast beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung ist, kommt gern nach Stuttgart. Seine gute Laune lässt er sich auch nicht davon vermiesen, dass er die täglichen Probleme der Stau-Stadt Stuttgart auf seinem Weg vom Flughafen in die Innenstadt hautnah miterlebt und erst mit 20 Minuten Verspätung eintrifft. Zumal er mit dem Mozartsaal ganz besondere Erinnerungen verbindet: „Hier habe ich 1977 zum ersten Mal die Internationale gesungen.“

Als sein wichtigstes Verdienst sieht der 55-Jährige, dass er die Partei wieder zu Kontinuität geführt habe. Es sei überfällig gewesen, dass sich die SPD wieder um die „ Zukunft des Landes“ kümmere „und aufhört mit der Selbstbeschäftigung“. Viele Prügel vom Wähler habe seine Partei für Entscheidungen in der Zeit der Regierungsverantwortung einstecken müssen: Hartz IV, Kriegseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan oder die Rente mit 67 – damals umstritten, im Rückblick seien sie aber richtig gewesen. In der Großen Koalition beschlossen die Sozialdemokraten 2006 an der Seite der CDU die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozent – für Gabriel der Kardinalfehler der SPD. „Wir dürfen nie wieder das Gegenteil von dem machen, was wir vor der Wahl versprochen haben“, schärft Gabriel den Zuhörern im Saal, vor allem aber seiner Partei ein. „Die Menschen wollen Parteien, denen sie trauen können, die berechenbar sind.“

Auch deshalb will der Wirtschafts- und Energieminister in Sachen Energiewende reinen Wein einschenken. „Man kann nicht zeitgleich den Atom- und den Kohleausstieg schultern“, stellt Gabriel klar. Er halte nichts davon, durch gesetzgeberische Maßnahmen bestimmte Kohlekraftwerke aus dem Markt zu drängen. Man müsse die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit im Blick haben und aufpassen, dass die Strompreise nicht ungebremst steigen. Wegen der Verbraucher, aber auch wegen der Industrie, die sonst ihre energieintensiven Produktionsstätten außerhalb Deutschlands baue. Also doch der Minister der Wirtschaftsbosse und der Kohle-Lobby?

Nein, schließlich sei er auch Umweltminister gewesen. „Natürlich will ich die Reduktion von 40 Prozent CO2 bis 2020 im Vergleich zu 1990 erreichen.“ Dieses Ziel hat er 2007 mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) festgelegt. Am 3. Dezember wird die Bundesregierung erklären, wie sie die Lücke beim Klimaschutz schließen will. Um das 40-Prozent-Ziel zu schaffen, braucht sie 62 bis 100 Millionen Tonnen zusätzliche Einsparung des klimaschädlichen Treibhausgases Kohlendioxid. Der Stromsektor soll 22 Millionen Tonnen dazu beisteuern. „Diese Reduktion ist natürlich kein Kohleausstieg“, sagt Gabriel. Zuletzt emittierten die deutschen Kraftwerke für die Produktion von Wärme und Strom 341 Millionen Tonnen CO2 im Jahr.

Ein weiterer Baustein ist eine bessere Energieeffizienz von Gebäuden. „Tatsache ist, dass in Deutschland der Spartrieb stärker ausgeprägt ist, als der Sexualtrieb – das müssen wir uns zunutze machen“, leitet Gabriel ein und hat die Lacher auf seiner Seite. „Wir müssen Anreize schaffen für Hausbesitzer und Vermieter, damit sie ihre Häuser besser dämmen und so weniger Energie verbrauchen.“ Die Bundesregierung will das Fördervolumen für die Gebäudesanierung von 2015 bis 2019 mit einer Milliarde Euro unterstützen, unter anderem durch steuerliche Abschreibungen von Effizienzmaßnahmen im Gebäudebereich.

Bisher passe bei der Energiewende „fast nichts zusammen“, gibt Gabriel unumwunden zu. Der selbst erklärte Atomkraftgegner bezeichnet den schnellen Ausstieg aus der Kernenergie, der 2011 von der schwarz-gelben Regierung nach der Atomkatastrophe von Fukushima beschlossen wurde, als „politische Panikreaktion“. Zugleich nimmt er sich wie auch seine Kritiker in die Pflicht. Es sei nicht die Zeit, eine „dicke Lippe zu riskieren“. Stattdessen gelte es, „die Zahnräder wieder zueinanderzubringen“ für eine funktionierende Energiewende.

Wenn ihm dies gelingt, kann der 55-Jährige die SPD aus dem Tief, in das sie bis 2009 hineingeschlittert war, möglicherweise wieder herausführen. Doch noch verharrt der rote Balken der SPD bei Umfragen wie betoniert bei 25 Prozent. „Charismatisch“ und „sympathisch“ sind Attribute, die Stuttgarter Bürger in einer eingespielten Umfrage mit Gabriel verbinden. „Er hat die SPD wieder zusammengeführt“, „er hat die Partei wieder in die richtige Richtung gebracht“, attestieren ihm die Passanten, und mancher Zuhörer im Mozartsaal nickt zustimmend. Auf die Frage des stellvertretenden Chefredakteurs Molitor, ob das Amt des Wirtschaftsministers dem des SPD-Chefs nicht ein Stück weit unvereinbar entgegenstünde, antwortet Gabriel mit einem energischen Kopfschütteln. „Der SPD-Vorsitz und das Amt des Wirtschaftsministers dürfen sich nicht widersprechen“, stellt der gelernte Gymnasiallehrer klar, der einst in Niedersachsen jüngster Ministerpräsident eines Bundeslandes war. „Es gibt keinen Widerspruch zwischen wirtschaftlich erfolgreich und sozial gerecht.“

Wie im Fluge vergeht die kurzweilige Diskussion auf dem Podium. Viele Themen werden in den anderthalb Stunden nur angerissen, etwa die Europapolitik. Als richtigen und überfälligen Schritt bezeichnet der SPD-Vorsitzende das von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geplante EU-Investitionspaket von 315 Milliarden Euro. „Wir haben aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu lange einen Stabilitätspakt gemacht.“

Auch die in der Nacht zum Mittwoch von der Bundesregierung beschlossene gesetzliche Frauenquote in den Führungsetagen der Wirtschaft lobt Gabriel. Ein Land, das einen Fachkräftemangel beklagt, könne nicht dauerhaft auf qualifizierte Frauen verzichten. „Das ist ein ökonomischer Fehler.“ Jetzt müsse er sich natürlich die Frage gefallen lassen, warum er dann Frau Merkel in drei Jahren aus der Führungsetage der Bundesregierung drängen wolle, fügte Gabriel mit einem Schmunzeln hinzu – und antwortete mit einem Blick auf die Uhr: „Aber leider ist die Veranstaltung jetzt zu Ende.“