Werner Köhn auf seiner Dachterrasse. Das Bohnenviertel präsentiert sich ihm in liebevoll renoviertem Gewand. Foto: red

Stadtbewohner erklären ihr Quartier, sechster und letzter Teil: Werner Köhn führt durch das Bohnenviertel.

Werner Köhn thront mit einigem Abstand über dem, was unten vor seiner Haustür geschieht – oder eher nicht geschieht. Das Bohnenviertel ist sein Quartier. An diesem Dienstag kurz vor der Mittagszeit ließen sich in dessen Gassen schwerlich Fußgänger anrempeln, selbst wenn jemand es darauf anlegen würde. Niemand ist unterwegs. „Wenn überhaupt, belebt es sich am Abend“, sagt Köhn. Er lebt an der Brennerstraße. Seine Zimmer verteilen sich auf zwei Etagen, sein Dachgarten auf drei. Das grüne Idyll mit Blick übers Zentrum wirkt wie ein Direktimport aus Norditalien. Hier oben „mischt sich Kindertoben mit Kirchengeläut und einem Summen der Straße“, sagt Köhn.

Das Café ist heute ein Bruchstück

Einst gehörte er zu denen, die das Viertel belebten. Mit sieben anderen eröffnete Köhn im Jahr 1987 das Café KönigX an der Esslinger Straße. Auf die Mischung aus Katerfrühstück am Morgen und Party in der Nacht schien das Stadtvolk gewartet zu haben. „Wir waren Idealisten“, sagt er, „wir wollten ein Stück südländische Lebensart nach Stuttgart bringen.“ Das KönigX brummte – anfangs. Am Ende scheiterte der Idealismus an der Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben. Mit immer weniger Stammgästen ließ sich ein Lokal dieser Größe nicht mehr bewirtschaften. Daran scheiterten auch etliche Nachfolger, zuletzt ein afrikanisches Restaurant. Inzwischen wird Sushi serviert. Das KönigX ist heute ein Bruchstück seiner selbst an der Weberstraße. Die Geschichte des Cafés steht in gewissem Sinne beispielhaft für die des ganzen Quartiers.

Das Bohnenviertel präsentiert sich in liebevoll renoviertem Gewand. Die vielen kleinen Antiquitäten- und Trödelläden laden zu einer Reise in die Vergangenheit ein. Und in den gemütlichen Kneipen, Cafés und Weinstuben lässt es sich herrlich entspannen – so beschreibt die Stadt in adjektivüberzuckerter Werbelyrik das Quartier. Das liebevoll renovierte Gewand wird Köhn nicht abstreiten. „Die Stadt hat viel getan“, sagt er – unübersehbar. Um den Bolzplatz im Zentrum des Viertels rankt Grün. Am Weberknotenbrunnen wartet eine Boulebahn auf Betrieb. Mit viel Geld ist das Kopfsteinpflaster der Gassen erneuert worden. Altbauten zieren ihre Ränder, mit Neubauten als Einsprengsel, im Wortsinn. Etliche historische Häuser fielen einst im Bombenhagel. Aus der Schreinerei kreischt die Säge. Galeristen, Gastronomen, Klamotten- und Antiquitätenhändler, Friseure bieten im Erdgeschoss etlicher Häuser ihre Waren und Dienste an. Wenn es irgendwo in Stuttgart ein Stück südländische Lebensart gibt, dann hier.

Köhn kennt jeden Laden, jedes Restaurant im Viertel

Allerdings ist das Viertel ein Beispiel dafür, dass nicht funktionieren muss, was am Reißbrett überzeugt, sogar, wenn das Ergebnis später auch in der Wirklichkeit überzeugt. Die Einladung zur Reise in die Vergangenheit und zum Entspannen in der Weinstube nimmt kaum jemand an. Wenn Köhn durch das Quartier schlendert, erzählt er im Wesentlichen, welcher Laden und welches Lokal sich wie lang gehalten und wie oft die Inhaber gewechselt haben. Dass das Bischof-Moser-Haus, ein Altenheim, mit Plakaten für eine Ü-60-Party wirbt, wirkt wie ein Symptom des Siechens. Das Bohnenviertelfest ist ein anderes. „Du siehst ja, was daraus geworden ist“, sagt Köhn, „das ist nur noch kommerziell“.

Dass das Viertel einst nicht abgeräumt und mit einem neuen Rathaus überzogen wurde, galt als historischer Einschnitt in der städtischen Baupolitik. Allerdings sind bei der Sanierung vorwiegend Sozialwohnungen entstanden. Und „wer bei Lidl einkaufen muss, geht eben selten zum Goldschmied“, sagt Köhn. Die Durchmischung stimmt nicht mehr.

Die Prostitution ist von der Straße verschwunden

Ungeachtet dessen ist Vieles besser geworden in den vergangenen Jahrzehnten, formal gesehen. Einst hat die Frühschicht rund ums KönigX gebrauchte Spritzen eingesammelt, ein Dutzend kamen nach jeder Nacht zusammen. „Der Spielplatz war ein Drogenumschlagplatz“, sagt Köhn. Seit einer Weile ist auch die Prostitution von der Straße verschwunden. Der Betrieb läuft jetzt unauffällig in den Häusern. Ab und an stören Nachtschwärmer die Ruhe, die Erlebnisse des Abends diskutieren, bevor sie ihren Rausch ausschlafen. Aber im Wesentlichen geht das nächtliche Leben ebenso am Bohnenviertel vorbei wie das tägliche.

Die Straßenschluchten der B 14 und der B 27M gelten nicht nur Köhn als Grund dafür, dass sein Quartier trotz aller anheimelnden Attraktivität vom Großstadtleben abgeschnitten ist. Allerdings: „Gäbe es die nicht, wäre es vielleicht wie in Berlin“, sagt er, „dann würden die Wohnungen entmietet und für reiche Yuppies umgebaut“. Seine wäre gewiss eine der ersten.

Die Serie
Mittendrin zu wohnen, an den tatsächlichen Brennpunkten des großstädtischen Lebens, erfordert Leidenschaft genauso wie Leidensfähigkeit. In der Serie „Zentral“ erzählen solche Zentrumsbewohner bei Rundgängen, was sie nervt in ihrer näheren Umgebung, was sie erfreut und unter dem Strich, warum sie das Stadtleben trotz seiner Auswüchse nicht missen wollen – zumeist jedenfalls. Im sechsten und letzten Teil erzählt Werner Köhn vom Leben rund um die Brennerstraße im Bohnenviertel. 1987 war Köhn einer der Macher des Café KönigX an der Esslinger Straße, das an dieser Stelle, wie etliche andere Cafés, Kneipen und Läden, nicht überlebt hat.