Annette Schavan in ihrer Residenz neben einem Bild von Benedikt XVI Foto: STN

Annette Schavan war Kultusministerin im Land, Bildungsministerin im Bund, Vize-Chefin der CDU. Sie war Teil des Merkel’schen Machtapparats. Dann stürzte sie über Plagiatsvorwürfe in ihrer Doktorarbeit. Nun ist sie wieder da, als deutsche Botschafterin beim Vatikan – ein Besuch nach 100 Tagen im neuen Amt.

Rom - Was für Gegensätze. Unten, im Zentrum von Rom, tobt der Verkehr. Die Straßen mit drei oder vier Fahrbahnen werden mindestens sechsspurig genutzt, der Lärm von Motoren und Hupen ist ohrenbetäubend. Dazu in den Gassen ein buntes Stimmengewirr von Italienern und Touristen aus aller Welt, die sich wie ein Lindwurm zu den historischen Stätten dieser altehrwürdigen Stadt schieben. Und oben, unweit der Villa Borghese? Ruhe, nichts als Ruhe.

In der parkähnlichen Gegend am Stadtrand der Millionenmetropole hört man Vogelstimmen, dazu das Plätschern von Brunnen. Ab und zu fällt eine schwere Tür ins Schloss. Es scheint, als tickten die Uhren in diesem Teil Roms anders. Keine Hektik, kein Termindruck, keine Fernsehkameras. „Ich stehe am Beginn einer neuen Lebensphase. Hier hat man ein anderes Verständnis von Zeit“, sagt Annette Schavan. Sie wirkt ausgeglichen, zufrieden, in sich ruhend. Oder wie ihr ein guter Freund neulich gesagt hat: „Diese Aufgabe passt zu dir.“

Rom, Via dei Tre Orologi. Hier also residiert die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Es ist eine Sackgasse. Aber nur straßenbautechnisch. Nicht persönlich. Schavan, die man ob ihrer besonnenen Art und ihres manchmal pastoral wirkenden Tonfalls schon zu Ministerzeiten gern mal Äbtissin nannte, fühlt sich hier nicht abgeschoben, sondern gut aufgehoben. „18 Jahre in Ministerämtern, das war eine verdammt lange Zeit. Und ich habe das alles gern und mit Leidenschaft gemacht.“ Politik sei wichtig, mehr denn je, sagt sie. Es klingt fast schon mahnend: „Politik ist eine Welt, die keine Verachtung verdient, sondern die für die Stabilität des Gemeinwohls extrem wichtig ist.“ Irgendwann aber ist es genug. Die ständige öffentliche Präsenz als Person, der vom Terminkalender bestimmte Alltag, die permanente Beobachtung durch die Medien – Schavan hat es gelebt, oft auch geliebt. Aber sie vermisst dieses Leben scheinbar nicht mehr. „Die politische Diplomatie verlangt, zurückhaltend zu sein und abwägend zu agieren“, umschreibt sie die Nachdenklichkeit in ihrem neuen beruflichen Alltag.

Was nicht heißt, dass die gebürtige Rheinländerin nicht mehr politisch denkt. Morgens, wenn die 59-Jährige den Pressespiegel aus Stuttgart und Berlin auf ihrem iPad liest, ist der frühere Alltag plötzlich wieder präsent. Manchmal regt sie sich kurz auf, zum Beispiel wenn die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg neben G 8 immer öfter G 9 ermöglicht. „Ich würde überhaupt keine Ausnahmen zulassen, sondern es beim achtjährigen Gymnasium belassen. Unsere jungen Leute stehen doch im internationalen Wettbewerb“, denkt sie in solchen Momenten laut nach.

Früher hätte Frau Ministerin auf solche Entwicklungen mit Pressemitteilungen und kurzen, kritischen Statements vor den TV-Kameras reagiert. Nun aber schaltet Frau Botschafterin in den Tempi-passati-Modus. Anders ausgedrückt: Sie will und muss nicht mehr alles kommentieren. Tagespolitik, das war gestern.

Allein, wer glaubt, die Aufgabe als Diplomatin sei deshalb ein Job zum Ausruhen auf Steuerzahlerkosten, der irrt. Schavan ist seit ihrem Amtsantritt im Juli gefordert. Nur anders als bisher. Die studierte Theologin, die einst das katholische Cusanuswerk leitete, ehe sie 1995 auf Bitten des damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel als Kultusministerin in die Landespolitik wechselte, bewegt sich mit ihren Mitarbeitern in politisch wie kirchenpolitisch heiklen Zeiten auf schwierigem Terrain.

Termine der vergangenen Tage beweisen das. Mal erörtert sie mit dem Iran-Beauftragten des Papstes die Lage im Nahen Osten, mal gibt sie ein Essen zu Ehren der Max-Planck-Gesellschaft und führt den wissenschaftlichen Diskurs. Ein anderes Mal trifft sie den Botschafter des von Jugendarbeitslosigkeit geschüttelten Spaniens zum vertraulichen Gespräch. Nur wenig später ist sie Ehrengast des polnischen Botschafters, als der zum Konzert samt Lesung lädt und es natürlich mal wieder auch um das nachbarschaftliche Verhältnis zu Deutschland geht. Wieder ein anderes Mal lädt sie Kirchenvertreter aus ganz Rom in ihre Residenz zur neuen Gesprächsreihe „Theologische Portraits“. Thema der Talk-Premiere: „Papst Paul VI. – der vergessene Papst“. Jenes Kirchenoberhaupt also, das sich als erster Papst auf Auslandsreisen wagte und damit der Katholischen Kirche einen Weitblick über Roms Welt hinaus verordnete, der hierzulande wegen seines Vetos zur Verhütung aber vor allem als „Pillenpapst“ in die Geschichtsbücher einging.

Fast könnte man meinen, Schavan wolle mit solchen Veranstaltungen – zumal damals noch kurz vor der Seligsprechung von Papst Paul VI. – provozieren. Weit gefehlt. Sie will informieren, Gespräche anstoßen, Nachdenklichkeit erzeugen. Und zwar über die Grenzen der unterschiedlichen Glaubensrichtungen hinaus.

Wie am vergangenen Wochenende. Schweigemarsch durch Rom zur Erinnerung an die deportierten Juden. Schavan geht ganz vorn im Gedenkzug ins sogenannte Ghetto. „Ich will Zeichen setzen. Das bringt mehr als viele Reden“, sagt sie und ergänzt grundsätzlich: „Der interreligiöse Dialog hat mich schon immer fasziniert. Wir brauchen in der modernen Gesellschaft eine religiöse Pluralität.“

Was sich in der Theorie verdienstvoll anhört, ist in der Praxis derzeit kaum realisierbar. Viele Krisen und Kriege dieser Tage haben religiöse Hintergründe. „Die letzten Wochen und Monate sind besorgniserregend. Mich berührt die weltweite Entwicklung ganz besonders.“ Ihre Stimme wirkt noch stiller als sonst.

An ihrem Ziel, dem Ausbau der Ökumene, hält sie trotz aller Turbulenzen fest. Dafür hat sie neulich bei ihrem Antrittsbesuch bei Papst Franziskus geworben. 40 Minuten haben die zwei im Vatikan miteinander geplaudert. Mal auf Deutsch, mal auf Italienisch. Der Papst wie immer ganz in Weiß, die Botschafterin ganz in Schwarz. So schreibt es das Protokoll vor. Dass sich Schavan wenig später für die Illustrierte „Bunte“ in rotem Blazer auf einer knallroten Vespa vor dem Petersdom fotografieren lässt, beweist: Die Frau ist wandlungsfähig, aber prinzipientreu.

Und sie ist neugierig. Obwohl sie Rom „seit über 20 Jahren kennt“ und schon erstmals zu Gast in der Residenz war, als Philipp Jenninger noch das Amt des deutschen Botschafters beim Heiligen Stuhl innehatte, entdeckt sie immer wieder Neues. Sie liebt es, an freien Abenden durch den quirligen Stadtteil Trastevere zu schlendern und das Flair italienischer Leichtigkeit aufzusaugen. Sie paukt Italienisch, so oft es nur geht, und meint dennoch selbstkritisch: „Es ist schon gut, aber noch nicht gut genug.“ Sie schaut, wenn es die Zeit zulässt, dem italienischen Koch in ihrer Residenz über die Schulter: „Ich habe von ihm gelernt, wie man echte Spaghetti Carbonara macht.“ Keine aus der Tüte, sondern echte mit frischen Eiern. Und sie arbeitet wieder wissenschaftlich, hält Vorträge, schreibt an Büchern mit. So wie jüngst, als sie ein Nachwort zur Apokalypse des Johannes geschrieben hat. 25 Fußnoten hat sie darin gesetzt, das ist nicht nur rechnerisch beachtlich. Es wirkt eher wie eine Art Retourkutsche für die Aberkennung ihres Doktortitels durch die Universität Düsseldorf wegen des Vorwurfs, ihre Doktorarbeit vor 30 Jahren sei ein Plagiat gewesen. Den Verdacht empfindet sie noch immer als Demütigung. Aber Schavan will über ihren Fall und den damit verbundenen Sturz nicht mehr reden. Nur so viel: „Ich habe in meinem Leben niemanden getäuscht.“

Sie schaut lieber nach vorn. Und überrascht. Vor wenigen Tagen hat sie anlässlich des Tags der Deutschen Einheit zum Empfang in den Garten der Residenz eingeladen. Petrus meint es gut mit der Novizin auf dem Botschafterstuhl. Strahlender Sonnenschein, beste Stimmung, 400 Gäste, darunter der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Und was macht Annette Schavan? Nicht nur, dass alle Gäste als Geschenk eine eigens für diesen Tag kreierte, kleine Pralinenkreation des Baiersbronner Konditormeisters Eberhard Holz erhalten. Nach all den Festreden tritt – entgegen sonstigen Gepflogenheiten – kein Streicherquartett auf, sondern ein Saxofontrio aus Ulm und schmettert Händels „Halleluja“. Mancher Besucher im Kirchenornament reagiert verdutzt. Schavan freilich feixt, diese Musik sei doch passend für Kardinäle. Da lachen sie alle, und die Botschafterin hat wieder einen Pluspunkt geholt. Für sich. Für Deutschland.

Drei bis vier Jahre wird sie in Rom bleiben, dann endet ihre Diplomatenlaufbahn. Schavan wird zurückkehren nach Deutschland, vielleicht nach Baden-Württemberg, wo sie in Ulm und Überlingen noch Wurzeln hat. Was sie dann macht? Da antwortet Annette Schavan diplomatisch mit dem Wort „vediamo“. Das ist die italienische Version der Beckenbauer’schen Lebensweisheit „schaun mer mal“.