"Raus aus Amal" - eine Produktion der Staatlichen Hochschule für Darstellende Kunst Foto: Promo

Wie wird man Schauspielschüler? Die Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule Stuttgart.

Stuttgart - Mit Castings wie bei "Deutschland sucht den Superstar" haben Aufnahmeprüfungen an Schauspielschulen wenig zu tun. Die Emotionen sind aber mindestens so heftig: 500 Kandidaten, acht Plätze.

Freitag, 3. Juni. Alles auf Anfang in der Staatlichen Schauspielschule in Stuttgart. Bis zum 18. Juni sprechen jeden Tag 30 bis 40 Bewerber ihre Franz Moors, Romeos, Julias vor.

8.45 Uhr. Raum 6.50 in Ebene 7. Acht Schauspielschüler, die hier vergangenes Jahr gezittert haben, schmieren Nutellabrötchen, kümmern sich um die 46 Bewerber des Tages. Nur zwei werden am Nachmittag jubeln. In den Gängen Rollkoffer, Rucksäcke, Jacken und Taschen, Wasserflaschen und Thermoskannen. Gegessen wird nichts, zu viele zugeschnürte Kehlen.

Torte eins uns Torte zwei

Die Prüfer wissen das und bemühen sich um Lockerheit. Die Vorsprechzimmer heißen Torte eins und Torte zwei, weil sie im Turm der Hochschule sind. Punkt 9 Uhr sitzen die Bewerber im Schneidersitz auf dem Boden. Große Augen. Franziska Kötz, die Direktorin der Schauspielschule, sagt nun Sätze, die sie oft wiederholen wird, und jedes Mal tut sie es mit sanfter Stimme und einem warmherzigen Lächeln: "Liebe Kandidatinnen und Kandidaten, ich möchte euch sehr herzlich begrüßen. Wir freuen uns, euch zu sehen." Sie sagt: "Auch wenn es nicht klappt, nehmt es euch nicht so arg zu Herzen. Bleibt mutig."

Tobias ist der erste Mutige, der in die Torte eins springt. HorvÖths "Ein Kind unserer Zeit". Entschlossener Blick, große Gesten. Kötz springt vom Stuhl auf: "Was wollen Sie erreichen?" - "Als Soldat anerkannt werden" - "Ich glaube Ihnen nicht. Überzeugen Sie uns!" Es wird merklich besser. Tobias schafft es in die zweite Runde.

Jetzt wird vor der kompletten Kommission gespielt. Rollenlehrer geben Anweisungen: "Ihre Gedanken entstehen gerade in einem Monolog, lassen Sie uns da teilhaben." Einer neigt zum Deklamieren, beim anderen wünscht man sich mehr Emotion. Die nächste hat viel Energie, kann aber ihre Spielweise nicht verändern. Auch Tobias überzeugt nicht alle. Die dunkel gelockte Cassandra und der siegesgewiss lächelnde Leonce, die es heute geschafft haben, werden am 18. Juni ausscheiden. Es ist später Nachmittag. Die Brötchen sind jetzt doch aufgegessen, die Luft ist abgestanden. Tränen fließen. Viele Kandidaten sprechen an zig Schulen vor. Auch die Prüfer sind müde. "Es ist schon so", sagt Franziska Kötz, "dass einem die Entscheidungen oft nachhängen."

Strenge ist nötig

Freitag, 10. Juni. Halbzeit. Sechs Tage wurde vorgesprochen, erst 13 Kandidaten sind weiter. "Es sind so viele Kandidaten, doch am Ende ist man dankbar, wenn man genügend Schüler findet, die wirklich talentiert sind", sagt Franziska Kötz. Strenge ist nötig, schließlich sollen die Schüler nach dem Studium möglichst alle einen Job finden.

Heute sind 29 Bewerber angereist. Nach einer wenig überzeugenden Penthesilea und einem näselnden Mephisto tritt Désirée Nüesch auf. 19 Jahre, grüne Augen, braunes Haar, zierlich, hübsch. Oder doch nur niedlich? Sie spielt die Babsi aus Palmetshofers "Wohnen unter Glas" mit einer beglückenden Zerbrechlichkeit. "Die Vorsprechen", sagen Schauspiellehrerin Pia Podgornik und Choreografin Verena Weiss, "sind enorm anstrengend, weil sie so viel Energie kosten. Wenn man aber überzeugt wird, gibt das eine Menge Energie zurück."

Désirée kommt in die Endrunde, mit ihr drei weitere Kandidatinnen. Sie wird daheim in Zürich sofort "Jeanne oder die Lerche" von Anouilh kaufen und auf dem Dachboden lernen. Am Dienstag hat Désirée noch gute Nerven. "Mir geht's ganz gut", sagt sie. "Ich bin dankbar für jedes Vorsprechen und genieße das. Es sind so intensive Gefühle, die man nirgends sonst erlebt." Und wenn's nicht klappt? "Ich überlege mir keinen anderen Beruf. Ich brauche meine ganze Kraft für die Vorsprechen."

Alle sind aufgeregt

Samstag, 18. Juni, Finale. 9 Uhr. Neben den sechs Professoren der Hochschule sind auch die Lehrbeauftragten da und viele Studenten. Die Prüfer sind aufgeregt, die Studenten sind aufgeregt, die Kandidaten auch. Désirée - "gut geschlafen, aber früh aufgewacht vor Nervosität" - hüpft in Jogginghose in den Übungssaal, wo Verena Weiss die Kandidaten schwitzen lässt. Zu "Give Me Shelter" von den Rolling Stones sollen sie auf den Rhythmus reagieren. Pogo, Purzelbäume, irgendetwas Eigenes. Weiss ist ungehalten: "Ich will merken, dass was von euch kommt! Holt euch Energie, ihr werdet sie brauchen." Einer turnt noch nicht. Mark Filatov steht in Köln vor der Kamera: Dreharbeiten. Absagen war nicht möglich, Vertrag ist Vertrag.

10 Uhr, Vorspielraum. Kein Fenster. Schwarze Wände, Parkettboden, drei Reihen voller kritischer Gesichter. Erste Übung: sagen, warum man Schauspieler werden will. Die meisten wollen ihre Gefühle loswerden, sich verwandeln, Handwerk lernen. Ein Riesenkerl aus Schwerin will auch politisch etwas bewirken.

Der Mädchen-Marathon beginnt. Die 13 Kandidatinnen spielen eine Übungsaufgabe und die Rolle, die in der ersten Runde am besten gefallen hat. 12.02 Uhr, Auftritt Désirée Nüesch. "Darf ich anfangen, wo ich will", sind die ersten Worte des Monologs von Anouilh. Einige Passagen spielt sie mit eigenartig verstellter Stimme. Ihre Babsi aus Palmetshofers "Wohnen unter Glas" ist aber so stark wie am 10. Juni. "Ist die gut", raunt einer.

Zwei Mädchen, die schon fertig sind, liegen auf einem Sofa im Aufenthaltsraum. Die hellblonde Marlene hatte in roten Strümpfen auf dem Tisch stehend, rotzfrech und auf Platt die Adelheid aus Hauptmanns "Biberpelz" gespielt. Neben ihr die dunkelhaarige Maren, sie war eine burschikose, verliebt-verhärmte Frau aus "Helges Leben" von Sibylle Berg. Nur eine von ihnen wird in Stuttgart studieren.

Man blickt in rote Gesichter

Die Jury berät lange, gelegentlich hört man erregte Stimmen. 16 Uhr: Man blickt in rote Gesichter. Lehrer stehen in Grüppchen zusammen, einige gehen raus, abkühlen. Einige Mädchen sollen noch einmal vorsprechen, auch Désirée und die blonde Marlene. Wieder Beratung, nachdenkliche Mienen, Kopfschütteln. Zwei Kommissionsmitglieder unterhalten sich über Désirée Nüesch. Womöglich schafft sie es nicht.

16.20 Uhr: Mark Filatov sitzt seit einer halben Stunde im Auto und fährt von Köln nach Stuttgart. Seine Konkurrenten sind schon dran. Bereits beim dritten Kandidaten, Emanuel aus Karlsruhe, ahnt man, der wird es schaffen. Man würde ihm gern länger beim Wüten über faule Verkäuferinnen zuhören, als er Marbers "Die Beißfrequenz der Kettenhunde" spielt. Man erlebt in den nächsten Stunden Menschen, die ihr Charisma verlieren, sobald sie spielen. Und Menschen wie Christian aus Bergisch-Gladbach, die erst beim Spiel so ein Leuchten bekommen, dass es einen umhaut.

19.20 Uhr. Zwei Jungs müssen noch mal ran, und sechs Mädchen sollen ein Lied singen. Auch Désirée Nüesch. Eigentlich hatte sie darauf gehofft. "Es ist ein Lied von Georgette Dee, in dem es darum geht, fiesen Kerlen nicht hinterherzuheulen." Jetzt liegen die Nerven blank. "O Gott!" Franziska Kötz beruhigt sie: "Freuen Sie sich! Zeigen Sie es uns." Désirée stellt sich vor den Prüfern und Studenten auf. Hände in die Hüfte. Sie rockt den Saal.

Das ganz große Bibbern

20 Uhr, Mark Filatov ist tatsächlich da, und ja, er darf vorsprechen. "Ich habe es so gehofft. Ich habe noch bis letzte Nacht im Hotelzimmer den Lopachin aus Tschechows ,Kirschgarten' geübt." Los geht's. Als sein Aufsteiger Lopachin realisiert, dass er der neue Besitzer von Gut und Garten ist, wechselt Mark ins Russische, seine zweite Muttersprache. Filatov, 20 Jahre, noch nie in einer Theatergruppe aufgetreten, ist ein Talent. Das zu erkennen ist keine Kunst. Doch die Konkurrenz ist groß.

Ein letztes Mal tagt die Jury. Im Wartezimmer das ganz große Bibbern. Die meisten liegen nur noch apathisch auf dem Boden. Der kleine Rudy sieht katastrophiert aus. Er hatte vorher zum zweiten Mal den lebensmüden Jungen aus Wedekinds "Frühlings Erwachen" vorgespielt. "Ich sollte mir vorstellen, wie es sich anfühlt, sich mit einer Pistole zu erschießen." Er schüttelt den Kopf, resigniert. 20.45 Uhr: Franziska Kötz bittet alle in den Vorsprechsaal. Sheila, die am Morgen schön gesungen hatte und Romy Schneider ähnelt, und die blonde Marlene fehlen noch. 20.56 Uhr, alle da. Franziska Kötz bedankt sich bei den Kandidaten, bei den Studenten, bei den Lehrern.

Jetzt aber: Drei Frauen haben es geschafft und fünf Männer. "Sheila Eckhardt". Jubel, sie kreischt vor Glück. Gleich daneben Marlene Hofmann, sie umarmt Sheila und schlägt die Hände vors Gesicht, denn sie ist die Zweite. Und nun wird sie auch von Désirée umarmt, sie hat es ebenfalls geschafft. Ob sie das "Hopp Schwyz" hört, das ihr vom Schweizer Schauspielschüler Andreas Ricci zugerufen wird? Es war wohl ihr Gesang, der die Jury überzeugt hat.

Auch Männer sind Gefühlswesen, diejenigen, die aufgenommen sind, sitzen erstaunlich nah beisammen, heulen vor Erleichterung. Der kleine Rudy Orlovius von "Frühlings Erwachen", der große Frederic Soltow, der auch politisch etwas bewegen will, der Kaufhausschimpfer Emanuel Jessel, der im Spiel so leuchtende Christian Czeremnych und, man hat es geahnt: Mark Filatov. Enttäuschung und Tränen hier, Jubel und noch mehr Tränen dort. Großes Theater.