Szene aus "Im Stein" am Stuttgarter Schauspielhaus Foto: Ilja Duron

Sebastian Hartmann hat „Im Stein“ als Live-Video inszeniert. Vier ermüdende Stunden lang rotiert am Samstag auf der Drehbühne des Schauspielhauses Stuttgart ein Kubus, auf den rotlichtgetränkte Bilder projiziert werden.

Stuttgart - Ein Mann (Holger Stockhaus) in Anzug und Fliege hetzt auf die Bühne. Er hat einen Karton auf dem Kopf, setzt ihn bald ab, schnauft, blickt sich ängstlich um, stellt sich vor einen raumfüllenden Karton und setzt dessen Miniaturversion direkt davor ab. Er will sich nicht mit den Bildern zufriedengeben, die aus dem Inneren der großen Kiste an deren Außenwände projiziert werden.

Er klopft und klopft, erst am kleinen, dann am großen Kasten, will hinein in das verdammte Ding, dorthin, wo das dreckige Leben tobt, wo es Rausch, Drogen, Sex und Nutten und Gummidildos, Moorleichen und irre Jockeys gibt. Er findet schließlich eine Öffnung und purzelt kopfüber in die Kiste.

Einblick in eine ganz andere Welt

Damit ist für alle, die bis dahin nicht eingenickt oder (wie deutlich mehr als ein Drittel des Publikums) davongeschlichen sind, noch einmal in aller Überdeutlichkeit vorgeführt, worum es geht an diesem Samstagabend im Stuttgarter Schauspielhaus: Wir Künstler lüften hier jetzt mal den Vorhang für einen Einblick in eine ganz andere Welt.

Wir geben diese Nachhilfe Leuten wie dem Mann mit der Fliege, einem Repräsentanten der heuchlerischen, voyeuristischen bürgerlichen Welt, die nach Sex giert, aber nichts weiß von den Nachtgestalten am Rande der Gesellschaft, über die der 1977 in Halle an der Saale geborene Autor Clemens Meyer 2013 in seinem Roman „Im Stein“ geschrieben hat. Ein Roman, der von einer Zeit handelt, die aus den Fugen ist, in der Familien auseinanderbrechen, in der keine Regeln, keine Werte mehr gelten.

Die Szene mit Stockhaus ist eine der wenigen, die der Zuschauer ganz direkt auf der Bühne sieht, ohne Worte, aber auch ohne Wackelkamera, ohne Unschärfen, ohne Lobs und Bildverdoppelungen. Und ohne Gestöhne. Denn Regisseur Sebastian Hartmann will Meyers Roman nicht naturalistisch nachspielen. Hartmann ließ vergangene Saison in seinem Viereinhalb-Stunden-Abend „Staub“ Schauspieler erst mal eine halbe Stunde tanzen, bevor sie das Stück über dekadente Großstädter auf dem Lande weiterspielten.

In seiner zweiten Arbeit für das Schauspiel Stuttgart entscheidet er sich, die Schauspieler überhaupt nicht mehr auf der Bühne agieren zu lassen. Er verbannt sie in eine riesige Box, um dort ein Live-Video zu drehen. Auf der Bühne sieht man die Figuren nur in wenigen Momenten, wenn sie wie Stockhaus das Publikum repräsentieren oder wie Abak Safaei-Rad bürgerliches Kulturgut – Salomons Hohelied – rezitieren.

Moralinsaurer Nachschlag an die Bühnenkante

Oder wenn sich das Kamerateam und die Schauspieler für einen moralinsauren Nachschlag an die Bühnenkante setzen. Birgit Unterweger, vorwurfsvoller Blick, sagt minutenlang auf, wie eine Prostituierte einen Kunden bedient („Ich küsse nicht“, „Jetzt biste bei mir Kleiner, und ich sag’ dir, ich blas’ ihn dir gut“), dabei aber, wenig überraschend, ganz anderes denkt („Das mag ich ja nun gar nicht und sag’ das denen auch, wenn sie zu viel fummeln“).

Im Innern der Box gelingen immerhin beim ständigen Live-Bilder-Produzieren (Video: Voxi Bärenklau, Jochen Gehrung, Julian Marbach, Matthias Maciej Rolbiecki) einige Effekte. Interessante Verundeutlichungen, düstere Szenen eines verzweifelten, missbrauchten Mädchens (Sandra Gerling), sinnlos in dem labyrinthischen Raum herumirrende Gestalten, Überlagerungen, Verdopplungen von Schauspielergesichtern mit Bildern aus der Kunstgeschichte: Vergewaltigungsanspielungen, die mit „Judith und Holofernes“ von Artemisia Gentileschi bebildert werden.

Oder Caravaggios dunkel gelockter Amor, der auf das Gesicht von Abak Safaei-Rad projiziert wird, die es als sächselnde Prostituierte gerade einem Inspektor besorgt hat. Amor wird auch eins mit dem Gesicht von Manolo Bertling, der den ganzen Abend lang schwarz beflügelt als irr blickender Todesengel durch die Szenerie streicht und am Ende einen hübschen Transsexuellen abgibt.

Hartmann proklamiert damit die altbekannte Ewigkeitsgültigkeit der Themen Eros, Vergewaltigung, Sex, Tod. Immer wieder fallen Jahreszahlen. Die frühen 90er Jahre, Nachwendezeit, in der die Väter ihre Kinder verkaufen, der Kapitalismus, der über den Kommunismus siegt, die Zeit der Globalisierung, in der auch die Nutten Aktien kaufen und verlieren. Die ganze Welt ist ein Bordell, ein Lamento auf die „Legierung aus Macht und Geld“. Ansonsten: eine banale Zwei-Welten-Logik, hier das Gute und dort die Bösen wie im „Tatort“.

Wippende Monsterdildos, an denen geschleckt wird, blutige Verhörszenen, voluminöse Pappmaché-Brüste, fiese Täter, bemitleidenswerte Opfer. Dazwischen allerlei Karikaturen – schimanskihafte Cops (Manuel Harder), die mit rauer Stimme über die Ödnis der Vorstädte jammern; Kommissartölpel à la Clouseau (Holger Stockhaus), die ihre eigenen Fingerabdrücke nehmen und ihren Schnurrbart unter den Fingernägeln von Leichen finden. Schmierige Radiomoderatoren, die mit ihrer Potenz prahlen und von ihren jüngsten Erlebnissen bei den „Puszta-Pussys“. Und irgendwann dann auch ein paar Prostituierte, die sich im Small Talk versuchen und sich in aufgesexter Stimmung aneinander kuscheln, streicheln, küssen. Wirklich albtraumhaft geht es nur nach der Pause zu, wenn sich die Bilder aus den zwei Stunden zuvor überlagern, wiederholen, wenn Zeiten, Räume ineinander fließen.

Der Abend lebt von einer Skandalisierungsgeste, doch die ist hohl und so altbacken wie die Idee, Comicfiguren wie Minnie Maus über die Bühne schleichen zu lassen, die für den Mief und die Prüderie der fünfziger Jahre stehen. Disneys Mäuschen als Symbol des alten Kapitalismus, der sich längst – und wesentlich perfider als Hartmanns Inszenierung zeigt – weiterentwickelt hat. So technisch anspruchsvoll, so gedanklich konventionell ist dieser Rückfall in längst vergangene Zeiten des Bürgerschrecktheaters.

Weitere Termine: 22. April, 3., 10., 21. Mai, 11. Juni. Karten: 07 11 / 20 20 90.