Wer häufig in Stuttgart über die Königstraße läuft, hat diesen Mann schon mal gesehen: Der Schachspieler Rudolf Kautz gehört zum Schlossplatz wie die Jubiläumssäule. Doch wer ist der Mensch hinter dem Brett?

Stuttgart - Der weiße König versucht seinem Schicksal noch zu entrinnen, doch wenige Züge später ist alle Mühe vergebens. „Schach matt“, sagt Rudolf Kautz, dann macht er einen Zug an seiner Zigarette – und einen mit seiner schwarzen Dame auf dem Spielbrett. Sein Gegner, ein Tourist aus Kanada, nimmt die Niederlage gegen den geübten Schachspieler auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit Humor. Auch Kautz ist nach Lachen zumute. Mit einem schwarzem Eddingstift markiert er den Sieg auf einer Liste. Die Striche auf der Liste neben dem G wie „Gewonnen“ werden im Laufe des Tages immer mehr.

Seit vielen Jahren ist der 58 Jahre alte Rentner Kautz eine so bekannte Figur am Schlossplatz wie die Concordia auf der Jubiläumssäule. Fast jeden Tag sitzt der Schachspieler aus Kasachstan dort auf der Königstraße von morgens bis abends auf einem alten Schreibtischstuhl und spielt Duell um Duell gegen Passanten. Vor sich hat er nur ein klappriges Tischchen und zwei Schachbretter ausgebreitet. Zwei Plastikhocker laden gegen eine kleine Spende zum kurzen Verweilen auf eine Partie Schach ein.

„Ich bin kein Bettler“

Der kleine, meist lächelnde Mann mit dem Mercedes-Benz-Hütchen auf dem Kopf hat viel über sein Leben zu erzählen. Lange war der in Kasachstan geborene Deutsche obdachlos. Seitdem der ehemalige Fernmeldetechniker bei einem Betriebsunfall ein Auge verloren hat, ist er in Rente. Die Tätowierungen an den Fingern und die tiefen Falten auf der Stirn sprechen für eine bewegte Vergangenheit. Falsche Freunde und Alkohol hatten ihm den Boden unter den Füßen weggerissen – bis das Schachspielen dem Leben wieder Halt gab.

Gelernt hat es Kautz schon in Kasachstan. Doch die Bedeutung des Brettspiels lernte er erst durch einen Menschen kennen, der nicht zusehen wollte, wie Kautz sein Leben wegwirft. Von diesem habe er einst ein Schachbrett geschenkt bekommen. Für Kautz bedeutet das Schachspiel seither viel mehr: „Für mich ist das Schach wie das Leben. Es ist manchmal schwarz und manchmal weiß.“

Mit dem Schachspielen will er seine knappe Rente aufbessern. „Ich bin kein Bettler. Ich biete eine kleine Arbeit an. Ich spiele nicht um Geld, ich spiele für eine Spende“, betont Kautz. Wie viel genau er damit verdient, könne er jedoch nicht genau sagen. An schlechten Tagen seien es vier Euro, an guten bis zu 50 Euro.

„Schach hat mein Leben gerettet“

Doch dem Brettspiel verdankt Kautz noch weit mehr als Geld. „Das Schachspiel hat mein Leben gerettet“, erzählt er. Dadurch habe er nämlich seine Alkoholsucht in den Griff bekommen. „Ich trinke jetzt schon elf Jahre keinen Alkohol mehr. Ich hoffe, dass ich nie wieder abstürze“, sagt Kautz. Die Trinksucht habe ihm zum Lügen und Stehlen gebracht. Mit allen Mitteln musste er an Alkohol kommen. „Es war die Hölle“, erinnert er sich. Heute hat Kautz einen Weg aus der Sucht und weg von der Straße gefunden. In einer Sozialwohnung im Stadtteil Büsnau hat er seit ein paar Jahren bereits ein Dach über dem Kopf.

Das Schachspiel bringt Kautz nicht nur mehr Geld ein als Betteln oder Flaschensammeln, womit er seinen Lebensunterhalt früher verdient hat, sondern verschafft ihm auch ein soziales Leben. „Ohne Beziehungen zu anderen steht man im Leben ganz alleine da“, sagt er. Aus einigen Partien seien sogar Freundschaften hervorgegangen. Dabei habe er Menschen kennengelernt, mit denen er über seine Probleme sprechen könne. Er gibt aber auch gerne Ratschläge: „Niemals im Leben darfst du aufgeben“, sagt er zum Beispiel einem Mädchen, das ihren König bei einer Partie Schach gerade in eine schier ausweglose Lage gebracht hat. Kautz weiß genau, wovon er spricht.

„Die Menschen kommen zu mir, um Freude zu haben“, sagt er. Doch manchmal setzen sich auch unglückliche Passanten zu ihm an sein Schachbrett. „Wenn Menschen traurig sind, spüre ich das“, sagt Kautz. Etwa daran wie die Leute dann ihre Spielfiguren anfassen. Doch dass jemand enttäuscht aufsteht und geht, möchte Kautz nicht: „Deswegen verliere ich auch manchmal absichtlich.“ Gewinnen und Verlieren – Schachspielen sei eben wie das Leben.