Der norwegische Titelverteidiger Magnus Carlsen (links) und sein russischer Herausforderer Sergey Karjakin liefern sich in New York leidenschaftliche Kämpfe. Foto: dpa

Der Russe Sergej Karjakin hält aufgrund seiner heroischen Leidensfähigkeit in schlechteren Stellungen die Schachweltmeisterschaft nach vier Partien ausgeglichen.

New York - Dieses Leiden, das hält doch keiner aus. Unmenschlich. Wie ein Angeklager, der stundenlang auf die Verkündung des Urteils warten muss. Wie ein Patient auf dem Zahnarztstuhl, der ausharren muss, bis endlich das Bohren beginnt. Wie ein angeschlagener Boxer, der taumelnd darauf wartet, dass der letzte Schlag das Licht ausknipst. Wer hält das aus? Sergej Karjakin. Der 26-jährige Russe fordert gerade Schachweltmeister Magnus Carlsen in einem auf zwölf Partien angesetzten WM-Match in New York heraus. Vier Partien sind gespielt. Vier Unentschieden. Klingt langweilig. Es ist spektakulär – jedenfalls in gewisser Weise.

Die beiden Auftaktpartien waren harmlose Präludien. Einmal überraschte Carlsen, der haushohe Favorit, mit einer selten gesehenen Eröffnung, einmal driftete die Partie bei völliger Windstille auf dem Brett unter schlaffen Segeln in den Remishafen. Dann aber begann das Martyrium des Sergej Karjakin. Carlsen liebt es, trockene, technische Stellungen auszuspielen, kleine positionelle Vorteile anzuhäufen, hier ein strategisch wichtiges Feld zu erobern, dort eine gegnerische Figur auf schlechte Positionen abzudrängen. Der Norweger kann seine Gegner hypnotisieren. Er versteht die Kunst, Wasser aus dem Stein zu pressen.

In der dritten Partie hatte er seine Idealposition erreicht. Die Damen waren vom Brett, langsames Manövrieren war angesagt. Und er hatte Initiative. In solchen Momenten wird Carlsen zu einer Boa Constrictor. „Er wittert Blut“, twitterte ein Großmeister. Und so war es. Der Norweger hatte längst zum Gnadenschuss geladen, doch der fiel nicht. Weil Karjakins alles dafür tat, es seinem Folterknecht schwer zu machen. Hier entschlüpfte er aus einer Falle, dort fand er den einzig rettenden Zug. Und das zeigte Wirkung. Am Ende war Carsen der Erschöpfte und musste ins Remis einwilligen.

Das war zwar eine Meisterleistung in Sachen Hartnäckigkeit, aber auch ein Akt des Widerstands, der sich nicht beliebig wiederholen lasse – zu kräftezehrend, zu zermürbend sind diese Stunden am Brett, in denen die einzige Hoffnung darin besteht, ohne Aussicht auf den Sieg bestenfalls die Punkteteilung zu erreichen. Aber Karjakin setzte sich tags darauf erneut nicht ans Brett, sondern auf ein Nagelbett, und ließ sich sieben Stunden foltern. Diesmal war die Lage noch aussichtsloser. Der Russe hatte mit den weißen Steinen in einer schwer erklärbaren Panikattacke die Reißleine gezogen und tauschte ohne Not seinen Läufer gegen einen Springer – ein Katapultstart in den Abgrund. Die Stellung war nach drei Stunden Spiel objektiv verloren für Karjakin. De russische Großmeister Peter Svidler sprach auf dem Portal chess 24 live nicht von einem Vorteil Carlsens, sondern von einem „trivialen Gewinn“. Alles, alles war gerichtet. Carlsen hatte totale Kontrolle. Es ging nur um den eleganten Weg zum entscheidenden Streich. Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt, aber der Norweger rutschte beim Anlauf aus. Nach sieben Stunden hatte es der russische Entfesselungskünstler wieder geschafft.

Für Carlsen ein Schock. Er erspielt sich überlegene Stellungen, kann sie aber nicht verwerten. Und Karjakin? Er hat zwei Nahtod-Erfahrungen am Brett überstanden. Macht das stärker? Er ist vier Partien nie zu Chancen gegen Carlsen gekommen. Nur seine heroische Leidensfähigkeit und seine irrationale Weigerung, das ihm bestimmte Schicksal zu akzeptieren, halten ihn bisher im Match. Mal sehen, wie lange noch.