Rigorose Bühnenrolle: Cecilia Bartoli Foto: Festspiele

Schönheit hat keinen Platz auf der Bühne, die Christian Fenouillat für die große Opernpremiere der diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele gebaut hat.

Licht aus. Licht an! Mit dem ersten Akkord aus dem Orchestergraben beleuchten Neonröhren die Bühne im „Haus für Mozart“ des Salzburger Festspielhauses: grell, nüchtern, kalt. So sieht Aufklärung aus. Schönheit hat keinen Platz auf der Bühne, die Christian Fenouillat für die große Opernpremiere der diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele gebaut hat. Feldbetten stehen da, Kleiderhaufen liegen auf dem Boden. Frauen hocken dort, verloren: Priesterinnen aus Not, nicht aus Neigung.

Es ist ein Trauerspiel. Aber nicht nur, denn Christoph Willibald Glucks „Iphigénie en Tauride“ („Iphigenie auf Tauris“) ist auch Oper. Sobald das Orchester I Barocchisti unter der Leitung von Diego Fasolis zu spielen beginnt, ist, wie immer in der Musik, das Traurige auch schön, und man kann all das Schreckliche, was seit dem griechischen Dichter Euripides über das Schicksal von Agamemnons Familie geschrieben worden ist, an diesem Abend auch genießen. Manchmal kann man dabei sogar die Augen schließen, denn es sind vor allem die Musik und ihre Darbietung, die den Abend zu einem ganz besonderen machen.

Das liegt an den italienischen Musikern im Orchestergraben, die mit ihren historischen Instrumenten und einem immensen Spektrum vor allem an klangfarblichen und dynamischen Nuancen Glucks Musik zum Sprechen und zum Blühen bringen. Außerdem machen I Barocchisti mit ihrem dramatisch aufgerauten Spiel mächtig Theater. Damit verleihen sie nicht nur dem nach vorne hin abfallenden Bühnenboden, der die Szene gleichsam auf die Musik zurollen lässt, eine besondere Sinnfälligkeit, sondern werden auch dem Theaterkomponisten Gluck gerecht, der in seinen sogenannten „Reformopern“ Musik, Sprache und Szene immer zusammen gedacht hat.

Dafür, dass dies auch hier immer wieder zu erleben ist, sorgt neben dem Orchester vor allem die Intendantin der Pfingstfestspiele, die auf der Bühne die Titelpartie singt. Zwar ist Cecilia Bartolis Stimme ein bisschen flattriger geworden, und es gibt Töne in lauter Höhe, die nicht mehr ganz so rein und rund klingen wie ehedem. Dass die Sopranistin sie trotzdem singt, adelt ihr Rollendebüt, und es hat einen guten Grund – schließlich zählt Gluck zu den Komponisten, denen Wahrhaftigkeit in der Darstellung extrem wichtig gewesen ist. Zu erleben ist aber auch jene hohe Kunst der sängerischen Perfektion, die Cecilia Bartoli berühmt gemacht hat: mit makellosen Tönen wie Kunstperlen, mit Phrasen, in denen jedes Detail mehrfach probiert und poliert worden ist, und mit traumhaft leisen Tönen in der Höhe. Weil die Sopranistin in „Iphigénie en Tauride“ die Artikulation der französischen Sprache ebenfalls akribisch erarbeitet hat, werden auch die Worte ganz Klang, ganz Farbe.

Hinzu kommen Bühnenpräsenz und Ausdruck. Als das Orchester in der Ouvertüre den Sturm in Iphigenies Seele in brennende Klänge fasst, bleibt Cecilia Bartoli noch stumm – und ist doch schon ganz sprechendes, ergriffenes Bühnenwesen, das sich anschließend bruchlos in die langen orchesterbegleiteten Rezitative des Stücks und in ihre erste große Arie hinein begibt. Manchmal scheint es, als habe Glucks Oper auf diese Sängerin gewartet. Auch Cecilia Bartolis Unmittelbarkeit und Unbedingtheit machen sie groß. Und eine Neugier, die sie im kommenden Jahr sogar zur Maria in Bernsteins „West Side Story“ bringen wird.

Christopher Maltman (Oreste) fällt ebenfalls tief hinein in seine Figur. Allerdings sind etliche Töne in seiner ersten großen Arie leicht zu tief angesetzt, und nicht alle Schwelltöne dort wären unbedingt nötig gewesen. Auch der Pylades von Topi Lehtipuu krankt immer wieder an intonatorischen Unsicherheiten. Dass Michael Kraus als Thoas nur mit seiner sonoren Stimme überzeugt, als (eigentlich doch bedrohliche) Figur aber blass bleibt, dürfte vor allem am Regisseurs-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier liegen, denen über ihrer Vertiefung in die Psychologie und über der Rücksicht auf Musik und Sänger(in) der Sinn für wirkmächtige Grobstrukturen abgeht.

So singen zumal die Frauen des Coro della Radiotelevisione Svizzera zwar toll, agieren aber viel zu starr, um auch ein Spiegelbild von Iphigenies innerer Zerrissenheit sein zu können. Gesichtslos sind die Figuren der Inszenierung nicht, wohl aber geschichtslos, und wer den Bezug des Stücks zum Heute nur in den zeitlosen Gefühlen der Menschen sieht, leugnet Verbindungen, die auf der Hand liegen. Morde religiöser Extremisten, Migration, ethnisch-kulturelle Konflikte in einem Zuwanderungsland – diese Themen der Oper kann eine Regie durchaus andeuten, ohne deshalb gleich plump zu wirken.

Bleibt die Musik: unmittelbar, packend. Die Produktion wird auch bei den großen Salzburger Festspielen im Sommer zu erleben sein, und das Zuhören ist eine Reise wert.