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Der Protest hat den bisherigen Höhepunkt erreicht - Chronologie des Donnerstags.

Stuttgart - Wasserwerfer, massive Polizeikräfte, tausende Demonstranten und Härte auf beiden Seiten: Am Donnerstag hat der Protest gegen Stuttgart21 im Schlossgarten den bisherigen Höhepunkt erreicht. In der Nacht zum Freitag will die Bahn die ersten Bäume fällen.

10.30 Uhr

Eine Polizeikarawane biegt an der Wolframstraße in den Schlossgarten ein: mehrere Lastwagen mit Drängelgittern und Scheinwerfern, Mannschaftswagen, zwei Wasserwerfer. Das Ziel ist der Teil des Schlossgartens, der unmittelbar an den alten Omnibusbahnhof angrenzt. Dort sollen für die Stuttgart-21-Baustelle die ersten Bäume gefällt werden. Doch die Karawane, die von starken Polizeikräften eskortiert wird, kommt nicht weit: Schon nach wenigen Metern wird sie das erste Mal von jungen Leuten blockiert, die von der zeitgleich in der Nähe stattfindenden Schülerdemo in den Park gezogen sind.

11.15 Uhr

Die Schüler, viele von ihnen sind kaum älter als 14, 15 Jahre, knipsen und filmen mit ihren Handys, albern herum. Ihr Protest gegen Stuttgart21 scheint - auch wenn manch einer die Argumente der Gegner aus dem Stegreif aufsagen kann - spielerisch, wie aus einer Laune heraus. Als die Polizeibeamten beginnen, die Drängelgitter zur Absperrung des Baufelds aufzustellen, kommt es zu ersten kleinen Rempeleien. Ein Wortführer der sogenannten Jugendoffensive gegen Stuttgart21 fordert über Megafon zur Sitzblockade vor den Lastwagen mit den Polizeigittern auf. Rund 200 junge Leute hocken sich auf die Straße und auf die ungesicherte Ladeflächen der Lkw.

12.00 Uhr

Auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz im Landtag erklären Innenminister Heribert Rech und Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU), dass 21 kleinere Bäume und eine große Platane noch in der Nacht zum Freitag gefällt würden. Da man von erheblichem Widerstand ausgehe, seien mehr als tausend Beamte im Einsatz, um die Baustelle zu sichern. Zur Unterstützung habe man "mehrere Hundertschaften" aus Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen sowie der Bundespolizei angefordert, erklärt Rech. Der Minister versichert, dass die Polizei weiterhin auf Deeskalation setzt. Wenn es zu Gewalt komme, werde man aber "hart durchgreifen".

Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf versichert, die Wasserwerfer würden "nur zur Eigensicherung eingesetzt", nicht Straßen freizumachen. "Da kann ein Wasserwerfer milder sein als ein Schlagstock oder Reizgas", meint Stumpf. Sowie die Bäume gefällt seien, ziehe die Polizei die Absperrgittern bis zur neuen Baustelle zurück, wo ein fester Zaun errichtet werde.

Die Schonfrist endet um 0.01 Uhr

12.40 Uhr

Im Mittleren Schlossgarten droht die Einsatzleitung über Lautsprecher erstmals den Wasserwerfer-Einsatz an. "Bleibt stark, bleibt friedlich" ruft der Mann am Megaphon den Sitzblockierern zu. Beim Räumen der Blockade kommt es zu massiven Handgreiflichkeiten zwischen den Beamten der Bundespolizei aus Bayern und den jungen Demonstranten. Etliche Polizisten setzen aus nächster Nähe Pfefferspray ein; die jungen wehren sich mit Händen, Füßen und Flüchen. Eine Frau, die am Boden hockt, wird von einem Beamten mit Fußtritten zur Seite gekickt. Kurz vor 13 Uhr gibt der grüne Lkw mit den beiden Strahlrohren auf dem Dach erste, gezielte Wasserstöße auf die Menge ab. "Da ist kein Reizgas drin", versichert ein Beamter. Man könne die Gangart aber verschärfen, falls es nötig werde.

13.30 Uhr

Vor dem Biergarten kommt der Polizeitross ins Stocken. Die Demonstranten halten sich Schirme und Plastikplanen zum Schutz vor dem Wasserwerfer über den Kopf, andere haben aus Bierbänken und -Tischen Barrikaden gebaut. Der Biergarten ist verwüstet, das Personal rettet, was zu retten ist. Meter um Meter rückt der Wasserwerfer vor. Dahinter wird der Absperrzaun Segment um Segment erweitert. An den Flanken des Konvois verunsichern hoch nervösen Polizeipferden mehr, als dass sie nutzen.

"Die Polizei kann Ihr rechtswidriges Verhalten nicht dulden", tönt es aus dem Lautsprecher. Die Antwort ist ein gellendes Pfeifkonzert. "Schämt Euch!" ruft die Menge, und: "Das ist unser Park!". Immer wieder kommt es zu kurzen, harten Auseinandersetzungen mit Demonstranten, die nicht weichen wollen. Ein junger Beamter schlägt im Gedränge einer blonden Frau mit der Hand mitten ins Gesicht. Erschrocken taumelt sie zurück. "Was soll ich tun - ich weiß ja nicht, wie der Mann heißt und wen ich anzeigen muss", sagt sie unserer Zeitung. Auch Zehn- oder Zwölfjährige, die ganz vorne dabei sind beim Protestieren, müssen sich die harte Gangart gefallen lassen.

14.15 Uhr

Das Vorgehen einzelner Polizisten macht auch die Politiker ratlos, welche die Szenerie aus nächster Nähe verfolgen. "Diese Brutalität macht mir jeden Ansatz zur Deeskalation zunichte", klagt Grünen-Stadtrat Werner Wölfle. Winfried Kretschmann, Fraktionschef der Grünen im Landtag, ruft über Handy Innenminister Heribert Rech an. "Bitte, lassen Sie das nicht eskalieren", sagt Kretschmann. Nach dem Telefonat berichtet der Grüne, Rech habe zugesagt, mit der Einsatzleitung zu reden. Für eine halbe Stunde scheint es, als ob die Polizei inne hält. Dann heißt es wieder über Lautsprecher: "Wenn Sie nicht den Weg frei machen, setzt die Polizei unmittelbaren Zwang ein." Dann gibt der Wasserwerfer die nächste Salven ab.

16.30 Uhr

Am zentralen Verbandsplatz zählt das Deutsche Rote Kreuz innerhalb weniger Minuten 69 neue Verletzte. Sie haben Blessuren an den Augen durch Reizgas, Prellungen, Blutergüsse und blutenden Nasen. "Hier ist Chaos", sagt Einsatzleiter Winfried Ellinger. "Wir betreiben hier im Grunde Katastrophenmedizin. Das der Konflikt so eskaliert, hat uns überrascht."

17.30 Uhr

Ein Sondereinsatzkommando (SEK) holt mit einer Hebebühne Robin-Wood-Aktivisten von einer der großen Platanen im Park. Weitere vier Großbäume sind besetzt. Polizeipräsident Stumpf macht sich selbst ein Bild von der Lage. Mit Blick auf die stundenlange Blockaden sagt er: "Das hatten wir noch nie, dass wir in Stuttgart massiv aufgetreten sind - und man uns trotzdem nicht weicht." Tausende Demonstranten haben sich im Park versammelt. Sie blockieren einen Polizeitransporter, der einen der Baumbesetzer wegbringen soll. Eine Einheit der Bereitschaftspolizei aus Mainz versucht den Weg zu räumen, zieht sich aber wieder zurück. Helme ab. Deeskalation ist angesagt.

20.30 Uhr

Der Führungsstab der Leitstelle von DRK und Feuerwehr meldet 116 Verletzte. Zehn von ihnen müssen ins Krankenhaus. Die meisten Verletzten gibt es durch den Einsatz von Pfefferspray. Sechs der Betroffenen sind erst zwölf, 14 und 16 Jahre alt.

21.00 Uhr

Im Schlossgarten ist so etwas wie Ruhe eingekehrt. Musik schallt durch den Park, Hunderte Kerzenlichter schaffen eine seltsame Atmosphäre. Ein Lichterteppich, fast romantisch. Doch wenn das Baufeld komplett abgeriegelt und von Demonstranten geräumt ist, kann die Bahn AG am Freitag um 0.01 Uhr mit dem Baumfällen beginnen. Dann endet die gesetzliche Schonfrist für die Vegetation, auch im Schlossgarten.

22.00 Uhr

Während noch nicht klar ist, ob sich die Lage im Schlosspark in der Nacht zuspitzt, sind die Vorfälle in Stuttgart bundesweit zum Top-Thema geworden. Viele Online-Dienste widmen sich dem Thema, Fernsehsender schalten immer wieder live nach Stuttgart. Der SWR ändert sein Abendprogramm, bringt Sondersendungen. Innenminister Heribert Rech (CDU) rechtfertigt den Einsatz der Polizei im „heute journal“. Ministerpräsident Stefan Mappus meidet dagegen die Medien; er will sich möglicherweise am heutigen Freitag äußern. Ein Nachspiel haben die Vorfälle in Stuttgart heute im Bundestag: Der Innenausschuss kommt auf Antrag der Linken um acht Uhr morgens zu einer Sondersitzung zusammen.

24.00 Uhr

Um Mitternacht steigt die Anspannung unter den mehreren tausend Demonstranten vor dem Bauzaun im Park deutlich an. Ab Freitag, 0.01 Uhr, dürfte die Bahn die Bäume fällen, dann endet die gesetzliche Schonfrist für die Vegetation. Flutlichtmasten haben die Szenerie taghell erleuchtet. „Mappus raus!“, skandiert die Menge, und immer wieder: „Schämt euch!“. Viele Demonstranten sind deutlich alkoholisiert, junges Volksfestpublikum und neugierige Normalos mischen sich unter die Menge der Stuttgart-21-Gegner. Immer wieder versuchen Einzelne, die Polizisten jenseits des Zauns zu provozieren. Die Straßenzüge rings um den Hauptbahnhof werden immer wieder für kurze Zeit von Demonstranten blockiert, das sorgt vor allem für Staus im Straßenverkehr.

0.30 Uhr

Um 0.30 Uhr bereiten Arbeiter hinter der Polizeiabsperrung die Baumfällungen vor. Schweres Gerät wird herangefahren. Die Menge skandiert wütend: „Aufhören, aufhören!“ Wann in dieser Nacht der erste Baum fällt, behalten die Verantwortlichen noch für sich. Sicher ist nur: Bis Freitag, 16 Uhr, sollen diese Arbeiten komplett erledigt sein. Denn bereits um 19 Uhr beginnt im Park die nächste Großdemo gegen Stuttgart 21.