Die Mahnwache der Protestbewegung in der Kernerstraße beim türkischen Generalkonsulat. Foto: Leif Piechowski

Die Massenproteste gegen die Regierung des türkischen Premierministers Erdogan greifen jetzt auf deutsche Städte über. Am morgigen Samstag demonstrieren Türken von 16 Uhr an auf dem Marktplatz und auf dem Schlossplatz gegen die türkische Regierung.

Stuttgart - An der Demonstration im Herzen Stuttgarts nehmen türkische Arbeitervereine, Vereine der alevitischen Religionsgemeinschaft sowie türkische Gewerkschafter aus der Region Stuttgart teil. Den Protestzug organisiert hat der vor anderthalb Jahren gegründete Bund Türkischer Jugendlicher, der in Stuttgart 70, bundesweit knapp 700 Mitglieder zählt. „Wir gehören keiner Partei an und wollen eine moderne, laizistische Türkei“, sagt die 25-jährige Merve Barasik, Mitglied des Bundes. Mit der Demonstration wolle man Solidarität mit der türkischen Protestbewegung in der Heimat zeigen. Das Fällen der Bäume am Taksim-Platz war nur der letzte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen gebracht habe.

„Ich bin mit den Demonstranten solidarisch, solange alles friedlich bleibt“, sagt Gökay Sofuoglu, Sozialarbeiter und Leiter des Stuttgarter Hauses 49. Nach Untersuchungen seien 69 Prozent der Demonstranten im Alter zwischen 19 und 35 Jahren. 53 Prozent nähmen erstmals an größeren Demonstrationen teil. Es gehe ihnen nicht um Ideologie, sondern um die Bewahrung ihres Lebensstils, denn von der AKP-Regierung fühlten sie sich seit Jahren zunehmend religiös gegängelt: „Ihre Freiräume in der Gesellschaft werden immer enger.“

„Was sich die türkische Regierung erlaubt, ist in einer Demokratie nicht akzeptabel“, urteilt Sami Aras, Vorsitzender des Forums der Kulturen Stuttgart. Erdogan führe sich wie ein Sultan auf. Den Europäern sei möglicherweise nicht klar, dass die Regierung vorhabe, unter religiösem Deckmantel nach und nach ins Privatleben der Menschen einzugreifen. Als Erdogan sich vor einigen Jahren angeschickt habe, gegen die Militärs mehr bürgerliche Freiheiten durchzusetzen, hätten sich ihm auch liberale Intellektuelle angeschlossen. Jetzt gehe er zu weit.

„Die Lage ist ernst! Die Jugend ist den Politikern weit voraus“

Der Stuttgarter Journalist und Übersetzer Ahmet Arpad weilt derzeit in der Türkei und ist quasi Zeuge der Entwicklungen. „Die Lage ist ernst! Die Jugend ist den Politikern weit voraus. Es ist ein ernst zu nehmender Jugendprotest, und die Hälfte der Demonstranten am Taksim sind junge Frauen“, schreibt er. Unterstützt würden sie von breiten Teilen der Bevölkerung. Arpad: „Es sind viele ältere Leute dabei, Sänger, Verleger, Ärzte, Anwälte.“ Dies signalisiere „den Bankrott des politischen Systems.“ Nicht zu vergessen sei, das seit drei bis fünf Jahren 63 regimekritische Journalisten in Istanbul-Silivri in Untersuchungshaft säßen.

Vor dem türkischen Generalkonsulat in der Kernerstraße in Stuttgart halten seit elf Tagen junge Türken Mahnwache. Sie solidarisieren sich mit den Opfern der Polizeigewalt in ihrer Heimat. Auch sie befürchten, dass die AKP-Regierung die vom Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk verordnete Trennung von Staat und Religion in der Türkei auflösen will. „Erdogan hat versucht, die Abtreibung zu verbieten, er will aus religiösen gründen ein Alkoholverbot, Schülerinnen sollen längere Röcke tragen. Für Außenstehend klingt das harmlos, aber es sind Schritte in die Islamisierung“, sagt die Studentin Merve Barasik.

Tourismus erlebt keinen Nachteil

Den Verdacht, dass fast die gesamte Gendarmerie der Türkei von der Bewegung des in den USA lebenden türkisch-islamischen Predigers Fethullah Gülen unterwandert sei, halten die jungen Leute in der Mahnwache für begründet. „Wir nennen diese Polizisten F-Typ-Polizisten“, sagt Merve Barasik. Manche haben Seiten im Internetportal Facebook. Einer hat nach dem Gewaltexzess auf dem Taksim-Platz geschrieben: „Wir haben die Feinde besiegt.“ Die jungen Leute betonen, dass sie nicht religionsfeindlich seien. „Religion ist Privatsache. Jeder kann glauben, was er will. In der Politik hat Religion aber nichts zu suchen“, sagt der 24-jährige Student Onur Berrak.

Dem Tourismus in die Türkei scheinen die Massenproteste bisher nicht geschadet zu haben. „Die Leute sind zwar ein wenig verunsichert, wir merken bisher noch keinen Rückgang“, sagt man im Tui-Reisecenter in der Schwabstraße. Möglicherweise liege dies aber auch an der Jahreszeit: „Städtereisen in die Türkei sind im Sommer wegen der Hitze nicht so gefragt.“