In fünf Jahren könnte es in Stuttgart mit Hausärzten knapp werden Foto: dpa

Die demografische Entwicklung wirkt sich in allen Bereichen. Auch bei den Ärzten. 35,6 Prozent der 390 Hausärzte sind älter als 60. Soll­ten sie alle in fünf Jahren in den Ruhestand treten, hätte Stuttgart ein Problem.

Stuttgart - Die Stadt ist mit Haus- und Facharzt-Praxen bestens versorgt. Zumindest laut Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Land. „Rechnerisch haben wir in Stuttgart eine Überversorgung“, erklärte KV-Vize Joachim Fechner den Stadträten im Sozial- und Gesundheitsausschuss am Montag und löste Grummeln im Saal aus. Erst durch seinen Nachsatz entspannten sich die Räte wieder: „Dennoch herrscht kein guter Zustand.“ Die Ursache sieht der KV-Vize auch an der umstrittenen Bedarfsplanung des früheren Gesundheitsministers Horst Seehofer aus dem Jahr 1993. Damals wollte der CSU-Politiker eine Ärzteschwämme verhindern.

Die Rahmenbedingungen von damals wirken bis heute nach. Die ärztliche Versorgung ist in manchen Bereichen der Stadt grenzwertig. „In Stammheim ist sie beispielsweise besonders schlecht“, merkte Gemeinderätin Beate Bulle-Schmid (CDU) an. Aber die ganze Stadt leide laut Fechner darunter, dass 230 000 Pendler jeden Tag und viele Patienten aus den umliegenden Landkreisen mitversorgt würden.

So weit der Ist-Zustand. Aber die Zukunftsszenarien von Fechner klingen noch düsterer: „Neugründungen gab es 2014 keine. Und wenn wir Nachbesetzung verhindern, nehmen wir eine Verschlechterung der schon heute problematischen Versorgung ganz bewusst in Kauf.“ Konkret: 35,6 Prozent der 390 Hausärzte sind älter als 60. Bei den 761 Fachärzten liegt die Quote bei 25 Prozent, bei den Psychotherapeuten bei 37 Prozent. Wenn also jene Mediziner in fünf Jahren in den Ruhestand gehen, könnte sich die ärztliche Versorgung in der Stadt erheblich verschlechtern. Und genau danach sieht es derzeit aus. „Wir haben nicht nur im ländlichen Raum zu wenig junge Mediziner, sondern auch in Stuttgart“, alarmiert Fechner: „Ich habe gerade für 23 Hausärzte Platz, aber die jungen Kollegen kommen nicht. Wir brauchen mehr Ärzte.“

In einer Befragung von 9000 jungen Medizinern kam heraus: Großstädte wie Stuttgart sind für die Berufsanfänger unattraktiv. Sie bevorzugen Städte mit einer Größe zwischen 10 000 und 35 000 Einwohnern. Offenbar erwarten sie sich dort mehr Vorteile im Alltag. In der Umfrage werden folgende Punkte genannt: ein Arbeitsplatz für den Lebenspartner, die Schulsituation, Kitaplätze oder die Notdienstbelastung. „Hinzu kommt, dass keiner mehr bis zu 14 Stunden arbeiten will“, sagt Fechner.

Von den 840 Jungmedizinern, die in Stuttgart erfasst sind, „wollen über die Hälfte in eine feste Anstellung mit 38,5 Stunden Wochenarbeitszeit, statt 16 Stunden als Freiberufler zu arbeiten“. Ein weiterer Grund, sich gegen die Arbeit als niedergelassener Arzt zu entscheiden, ist das finanzielle Risiko: „Ein Hausarzt muss 200 000, ein Facharzt 500 000 Euro investieren“, sagt Fechner, „das wollen die meisten nicht mehr auf sich nehmen.“

Die Hausarztpraxis ist nach Ansicht des Experten ein „Auslaufmodell“. Er glaubt, dass sich in Zukunft immer mehr Ärzte zu Gemeinschaftspraxen zusammenschließen. Fazit Fechner: „In Stuttgart wird in den kommenden fünf Jahren jede dritte Hausarztpraxis ohne Nachfolger schließen.“

Eine Prognose, die der AfD-Stadtrat Heinrich Fiechtner, selbst Mediziner, bestätigte: „Die Zukunft wird problematisch.“ Gabriele Nuber-Schöllhammer (Grüne) erlaubte sich den Zusatz: „Auch die Ambulanzen in den Krankenhäusern arbeiten am Anschlag.“

Die Hinweise alarmierten zwar die Ausschuss-Mitglieder, nur Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer meinte gelassen: „Wir haben zwar Probleme, aber die können wir auf Stuttgarter Ebene nicht regeln. Das ist Länder- oder Bundessache. Wir können in diesem Ausschuss nicht die Welt retten.“

Das mag stimmen. Aber ganz ohne Handlungsspielraum ist die Stadt nicht. Laut Sozialgesetzbuch (SGB) haben Kommunen durchaus Möglichkeiten, auf die ärztliche Versorgung Einfluss zu nehmen. So heißt es in Paragraf 95: „Kommunen können medizinische Versorgungszentren auch in der rechtlichen Rechtsform eines Eigen- oder Regiebetriebs gründen.“ Vielleicht wird das ab dem Jahr 2020 notwendig.