Bis 2020 geht jeder zweite Beamte im Land in Ruhestand Foto: dpa

Bis 2020 geht jeder zweite Polizei-Beamte im Land in Ruhestand – und muss ersetzt werden.

Stuttgart - Polizeireform, Finanzlücken, schwierige Arbeitsbedingungen – Sorgen haben die Ordnungshüter in Stadt und Land derzeit mehr als genug. Doch was viele Polizisten besonders umtreibt, ist der große Wachwechsel, der demnächst beginnt. Fast die Hälfte der 21 000 Vollzugsbeamten in Baden-Württemberg wird sich in den nächsten Jahren in den Ruhestand verabschieden. So mancher befürchtet, dass damit viel Wissen und Erfahrung verloren gehen. Und dass, um genügend Nachwuchs zu finden, früher oder später die Aufnahmehürden gesenkt werden könnten.

„Bis 2020 gehen 45 Prozent der Vollzugsbeamten in Rente“, bestätigt Günter Loos vom Innenministerium. Dieses Phänomen erklärt sich aus der Geschichte. Anfang bis Mitte der 70er Jahre hat man im Land die Zahl der Beamten deutlich erhöht und innerhalb kurzer Zeit viele neue Polizisten eingestellt. Und die steuern jetzt dem Ruhestand entgegen.

„Diese Entwicklung kommt weder überraschend noch plötzlich“, sagt Rüdiger Seidenspinner. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei kritisiert, dass die Politik dennoch zu spät reagiert habe. Seit 2008 hat man die Ausbildungsplätze auf 800 pro Jahr erhöht, für 2012 einmalig sogar auf 1200, um mögliche Kandidaten aus dem doppelten Abiturjahrgang abzuschöpfen. Wie es weiter geht, ist derzeit offen. „1000 pro Jahr wären künftig gut, 800 das Minimum, um die Polizei vor dem Kollaps zu bewahren“, warnt Seidenspinner.

Die Polizei muss sich gegen Konkurrenz aus der Wirtschaft behaupten

„Wir wissen, dass die Belastungsgrenze für viele Beamte erreicht ist, glauben aber, dass wir den Aderlass in den nächsten Jahren kompensieren können“, sagt Ministeriumssprecher Loos. Dennoch sei es „ein echtes Problem“, dass man lange nur so viele Leute ausgebildet habe, wie auch Stellen vorhanden waren. Die Einstellungstests wolle man auf keinen Fall lockern. Derzeit gebe es noch genug Bewerber. Für die 1200 Ausbildungsplätze in diesem Jahr haben sich mehr als doppelt so viele Kandidaten beworben. Allerdings werden manche schon im Vorgespräch ausgesiebt, andere bestehen die Einstellungstests nicht. „Der demografische Wandel ist bekannt“, sagt Seidenspinner, „die Polizei muss sich zunehmend gegen Konkurrenten aus der Wirtschaft behaupten.“ „Wir sind nicht blauäugig“, sagt auch Loos, „es wird künftig schwieriger, geeignete Bewerber zu finden, wenn große Firmen entsprechende Angebote machen. Für Polizeiarbeit braucht man auch Enthusiasmus.“

Besonders deutlich wird dieses Problem in der Landeshauptstadt. Dort geht in den nächsten zehn Jahren etwa ein Viertel der Beamten in Ruhestand, bei der Kriminalpolizei ist es fast die Hälfte. „Bis jetzt ist es noch immer gelungen, gute Leute zu bekommen“, sagt Sprecher Stefan Keilbach, „obwohl es in Stuttgart seit jeher ein Problem ist, dass zu wenige Bewerber aus der Stadt selbst und der Region kommen.“ Die Konkurrenz durch die Industrie ist hier deutlich größer als auf dem Land. Das wird sich in Zukunft noch verstärken.

Mit den älteren Kollegen verlässt viel Erfahrung die Polizei

Einen Lösungsansatz sieht die Politik darin, verstärkt Migranten für den Polizeiberuf zu gewinnen. Ihr Anteil an den Ordnungshütern sei „immer noch viel zu gering“, sagte Innenminister Reinhold Gall unlängst. Die Polizei komme ohnehin „nicht mehr ohne interkulturelles Denken und Handeln aus“. Derzeit haben nach Schätzungen sieben bis acht Prozent der Beamten einen Migrationshintergrund, bei der Gesamtbevölkerung sind es drei Mal so viel. „Dieser Plan kann helfen“, sagt Gewerkschaftschef Seidenspinner, „man muss allerdings besser an diese Leute herankommen. Viele wissen gar nicht, dass sie auch ohne deutschen Pass zur Polizei gehen können.“

Die Gefahr, dass mit den älteren Kollegen zu viel Erfahrung die Polizei verlässt, sieht man auch im Ministerium. „Das ist ein großer Nachteil, aber wir arbeiten an einem System für den Wissenstransfer“, so Loos. In Stuttgart sollen künftig zwei Mitarbeiter aus dem Führungs- und Einsatzstab damit betraut sein, sich um dieses Thema zu kümmern. „Sie werden vorher automatisch informiert, wenn Kollegen gehen“, sagt Keilbach, „und dann abfragen, welches Spezialwissen an wen übergehen muss.“

Bei allen Problemen: Im Innenministerium hofft man auch auf einen Vorteil. Ältere Polizisten fallen öfter durch Krankheit aus oder können keinen Schichtdienst mehr übernehmen. Mit dem großen Wachwechsel könnten deshalb immerhin „wieder mehr Kollegen auf die Straße kommen“.