„In der Theorie bleibt die Ukraine ein Land – in der Realität ist es ein Land und ein russisch dominiertes Autonomiegebiet“, sagt der Politologe de Jong Foto: AP

Der niederländische Politologe Sijbren de Jong über den Waffenstillstand, Grenzen - und warum er glaubt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die einzige ist, die mit dem russischen Präsiedenten Putin auf Augenhöhe reden kann.

Stuttgart/Den Haag - Herr de Jong, ist jetzt wieder Frieden in Europa?
Das zeigen die kommenden Tage. Aber ich bin da eher pessimistisch: Die Rebellen haben nach dem jetzt geschlossenen Abkommen noch bis zum Sonntag Zeit, gerade in der Gegend um Debalzewe die Grenzen zu verändern, Gebiete zu erobern. Es ist fraglich, wie die Ukraine darauf reagieren wird.
Glauben Sie wirklich? Immerhin haben drei Staatsoberhäupter und Kanzlerin Merkel das Abkommen grundlegend verhandelt . . .
. . . in dem Russland im Vergleich zur Ukraine recht wenig schluckt: Autonomie für die Ostukraine. Und wenn überhaupt, dann erlangt die Regierung in Kiew die Kontrolle über seine Grenze mit Russland erst dann zurück, wenn ein sehr komplizierter und komplexer Prozess mit Verfassungsänderungen und einzugehenden Garantien für die russische Bevölkerung abgeschlossen ist. Auf absehbare Zeit wird diese Grenze sehr instabil und unsicher bleiben.
Was bedeutet das für die Ukraine?
Vor allem eines: Mit diesem Abkommen müssen sich die Ukrainer von ihrem Traum verabschieden, Mitglied der Europäischen Union und noch mehr der Nato zu werden. Das ist jetzt eine Illusion. Das Bündnis wird sich nicht in eine Region erweitern, in der seine Grenzen unsicher sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU dieses Risiko durch eine Erweiterung eingehen wird. In der Theorie bleibt die Ukraine ein Land – in der Realität ist es ein Land und ein russisch dominiertes Autonomiegebiet.
Dann haben der russische Präsident Wladimir Putin und die Separatisten alles, was sie wollten.
Mit einer Ausnahme: Sie haben keinen Hafen zum Schwarzen Meer. Mariupol haben die Rebellen nicht erobert. Aber ansonsten: Sie kontrollieren eine wirtschaftlich wie territorial sehr interessante Region. Die Grenze zu Russland bleibt absehbar offen. Es besteht die Gefahr, dass Russland und Separatisten im geschickten Zusammenspiel den Konflikt auf diesem Niveau einfrieren . Und ihn damit immer dann aktivieren können, wenn es ihnen in die eigenen Pläne passt.
Dem könnten die Internationale Gemeinschaft ja mit einer Friedenstruppe begegnen . . .
. . . die es nicht geben wird: Denn offiziell ist Russland keine Konfliktpartei dieser Auseinandersetzung. Damit wird es keine internationale Friedenstruppe geben, die ohne Russland aufmarschiert. Das aber war für die ukrainische Regierung wie auch für die deutsche und französische eine Brücke zu viel. Russische Friedenstruppen hat es ja schon seit 1992 in Georgien gegeben. Die in Südossetien stationierte Truppe bildeten quasi die Speerspitze für die im August 2008 angreifenden russischen Verbände.
Damals hat die Nato so gut wie gar nicht reagiert.
Es ist genau diese Erfahrung, die Putins politisches Handeln heute erklären: Er hat damals seine Grenzen ausgetestet und dann seine Hausaufgaben gemacht. Russland ist schlicht nach der Deutschen Einheit und dem Zerfall des Warschauer Paktes unterschätzt worden – militärisch wie politisch. Der Westen war zu sehr mit sich selbst und dem von ihm geführten Kampf gegen den Terror beschäftigt.
Sie haben in den Niederlanden alle Kampfpanzer abgeschafft, wir in Deutschland nahezu alle.
Natürlich. Der „war on terror“ hat auch andere militärische wie politische Fähigkeiten gefordert, als die im Kalten Krieg. Aber ich halte den Gedanken, nie wieder Krieg in Europa für einen ebenso verführerischen wie gefährlichen: Wir haben vielleicht ein wenig zu früh begonnen, die sogenannte Friedensdividende einzufahren.
Angela Merkel – so bescheinigen es international die Politiker der deutschen Kanzlerin – soll die einzige sein, die in Europa Putin die Stirn bieten können. Welchen Eindruck haben Sie in Den Haag?
Ich teile diese Einschätzung: Mitten in London ist ein riesiges russisches Finanzimperium entstanden. Naiv daran zu denken, dass die britische Regierung eine maßregelnde Rolle in der Auseinandersetzung spielen könnte. Frankreich ist durch Rüstungs- und andere Geschäfte eng mit Russland verflochten. Schwer vorstellbar, dass Präsident Hollande da mehr Druck ausüben wird, als er dies jetzt getan hat. Insofern bleibt nur Merkel.
Also das überbleibende Übel?
Da haben Sie mich falsch verstanden: Merkel spricht russisch, ist durch ihre DDR-Vergangenheit mit der russischen Mentalität vertraut. Sie ist in Europa die einzige, die auf Augenhöhe mit Putin reden kann.