Linkssein ist keine Position, sondern ein Gefühl, sagt unser Autor Foto:  

Linke, die Angela Merkel applaudieren. SPDler, die CDUler rechts überholen. Was ist in solchen Zeiten eigentlich der Kern des Linken? Eine Erklärung.

Stuttgart - Aber nein, nicht doch. So ist es nicht. Ein Missverständnis. Eine Verharmlosung. Linkssein, das bedeutet doch nicht für ein bisschen mehr Staat zu sein. Etwas höhere Steuern hier, etwas weniger Privatisierung da, und Mindestlohn und Einheitsschule. Linkssein, das ist nämlich überhaupt keine politische Position. Und vielleicht kommt der ganze Ärger überhaupt erst daher, das Linkssein in die Politik zu tragen, in die Wirklichkeit mit ihren Kanten und Brüchen, mit ihrer Widerspenstigkeit und Bockigkeit. Linkssein ist nämlich etwas ganz anderes.

Ein Gefühl ist es. Eine Euphorie. Ein Aufbruch. Eine Verheißung. An der nächsten Biegung wartet das Glück, komm, lass uns gehen. Doch wirklich, man muss sich den Linken als glücklichen Menschen vorstellen.

Äh, halt! Falscher Film, falscher Text, falsches Objekt. Der Linke, das ist doch der Miesepeter schlechthin. Ein Besserwisser, unzufrieden, ungeduldig, arrogant. Die Rolle ist besetzt, ein für allemal.

Der Linke ist ein glücklicher Mensch

So kann man sich täuschen. Ganz zu Anfang nämlich ist der Linke ein glücklicher Mensch. Ja, die Welt ist nicht in Ordnung, so ungerecht, so ungleich, wie sie ist. Aber sie ist gestaltbar, veränderbar, formbar. „Alles zu werden strömt zuhauf“, heißt es in der Internationalen, dem glutvollen Hymnus linker Weltverbesserer. Und dieses Wort, heute fast ein Schimpfwort, hatte damals noch seinen reinen Klang. Der Modus des Linken ist der Aufbruch, die Jugend seine Zeit, vorwärts seine Richtung und sein Wetter ist der aufdämmernde Morgen. Der Tag der Veränderung, des Glücks, der Entscheidung – er liegt vor dir. Carpe diem. Mach mit, pack an, es liegt alles an dir! „Mit uns zieht die neue Zeit“, heißt es in dem alten Kampflied.

Dieses frenetische Glücksversprechen, sein Schicksal selbst in der Hand zu haben, von keinem Gott gebremst, von keiner Herrschaft gehindert, steht am Anfang. Am Anfang wovon? Dem langen Weg einer erwachenden Arbeiterschaft auf dem Weg zu voller Teilhabe, Integration und politischer Gleichheit.

Gut, auf dem Weg muss einiges passiert sein. Irgendetwas hat den Linken die Stimmung verhagelt. All der fortschrittsschwangere Pathos ist gründlich verflogen. Geblieben ist allenfalls eine Geste. Es konnte noch in den 70-er Jahren eine coole Provokation sein – wenigstens das noch –, im Bus mit Che-Guevara-Mütze und Anti-Atom-Aufkleber demonstrativ in Marx’ „Kapital“ zu blättern. Der Bürger hat die Stirn gerunzelt. Das war es wert. Heute würde es niemandem auffallen. Spinner gibt es eben überall.

Der moderne Linke, man muss es zugeben, hat eher schlechte Laune. Es hat zu viele Enttäuschungen gegeben. Der Marxismus meinte allen Ernstes, die Naturgesetze der menschlichen Gesellschaft entdeckt zu haben. Der letzte, größte Sieg der Vernunft. Das war fantastisch. Der Fortschritt, die Wirtschaft, das Zusammenleben – alles planbar. Daran glaubt heute niemand mehr. Die Planwirtschaft ist kläglich gescheitert. Und die Lesbarkeit der Welt, der Fortschritt nach Gesetzen?

Der geschwungene Zeigefinger ist das Lieblingskörperteil des Linken

Der Zweifel gehört heute zum Rüstzeug jedes Linken. Und bei den Bockigen kommt dieser Frust dazu: Die wollen es einfach nicht begreifen! Stimmt schon: Wenn der Hintern das Lieblingskörperteil des fortschrittsskeptischen Konservativen ist, der lieber hocken bleibt als aufzubrechen, dann ist der lehrhaft geschwungene Zeigefinger das Erkennungszeichen des Linken.

Und es ist ja noch schlimmer. Der Fortschritt selbst ist verdächtig geworden. Für die Industriearbeiterschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts lag im technischen Fortschritt das Versprechen auf leichtere Arbeitsbedingungen, auf ein besseres Leben, auch auf Wohlstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte ein verdatterter Theodor Adorno fragen, wo denn bitte auf dem langen Weg von der Steinschleuder zur Atombombe überhaupt der zivilisatorische Fortschritt liege. Die Linken mussten abschwören. Dem naiven Fortschrittsglauben, erst recht dem Gedanken, eine Avantgarde zu sein. Alles als Erster begriffen zu haben, um es nun den noch tumben Vielen einzuhämmern – diese totalitäre Hybris war der Dämon der linken Bewegung. Schmerzhaft und quälend war der Exorzismus.

Damit kann man es belassen. Alles liegt in Trümmern. Verflogen die Euphorie der frühen Jahre. Aus der Glut ist Asche geworden. Manchmal fliegt noch ein verkohltes Papierchen auf, mit vielen Spiegelstrichen, über die auf Parteitagen von SPD und Linke gestritten wird, als gelte es die Welt. Da soll keiner schlechte Laune bekommen!

Der Linke besitzt einen unverwüstlichen Optimismus

Ja, und da ist die Geschichte zu Ende. Die Linke? Ein historischer Irrtum. Schlussmusik, Abspann, aus die Maus. Aber. . ., aber, ähm. . ., das kann doch nicht alles gewesen sein? (War das nicht ein Lied von Wolf Biermann, dem ehemals so widerständigen Linken?) Tja, und da ist er dann wieder. Der unverwüstliche Optimismus des Linken. Nein, war nicht alles. Zu früh gefreut. Trotz alledem (war das nicht ein Lied von Hannes Wader?) ist die Linke noch da. Trotz kommunistischer Diktaturen, trotz trostloser sozialdemokratischer Langeweile, trotz des immerhin beeindruckenden Siegeszugs eines globalisiert entfesselten Kapitalismus. Oder vielleicht sogar gerade deswegen?

Zeit also für die Inventur: Was ist an Brauchbarem übrig geblieben, an Treibgut aus den Zeitenwellen und -wenden? Was ist der Kernbestand moderner linker Überzeugungen?

Eine aktuelle Studie der Hilfsorganisation Oxfam besagt, dass die 62 reichsten Menschen der Erde so viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das oberste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über mehr Vermögen als der Rest der Welt.

50 Prozent der deutschen Haushalte besitzen ein Prozent des Vermögens

Das Vermögen der 62 Reichsten ist dabei in den vergangenen fünf Jahren noch einmal um 44 Prozent (auf 1,76 Billionen US-Dollar) gewachsen. Auch in Deutschland wächst die Schere zwischen Arm und Reich. Laut Armutsbericht der Bundesregierung verfügen die unteren 50 Prozent der Haushalte in Deutschland zusammen nur über ein Prozent des gesellschaftlichen Vermögens. 1989 besaßen sie noch fast dreimal so viel.

Man kann das in Ordnung finden. Man kann es auch ungerecht finden. Die Empörung über eine als ungerecht empfundene Verteilung von Reichtum, aber (damit verbunden) eben auch von Chancen zur Teilhabe an Kultur, Gesellschaft und Politik ist links. Wolfgang Thierse fasst die linken Grundwerte im Interview noch präziser zusammen: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, mit besonderer Betonung der Gerechtigkeit. Konservative waren in den vergangenen Jahrzehnten ganz erfolgreich darin, dies als altmodisch darzustellen.

Althergebracht ist es bestimmt. Der österreichische Schriftsteller Robert Misik glaubt, dass große Philosophien sozusagen „Sedimente“ in der Alltagswelt bilden. Sie gehen als Versatzstücke in das kollektive Denken ein. Er nennt als Beispiel „eine gewisse Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, dass jeder Mensch das Recht hat, in Würde zu leben und die gleichen Möglichkeiten haben sollte, ein gewisses Minimum nicht zu unterschreiten“. Und er fügt den Gedanken der „Entäußerung“, der „Entfremdung“, der „Verdinglichung“ hinzu, dass also das kapitalistische Wirtschaften den Menschen auch zu einem Objekt, einer Ware macht. Darin steckt dann noch die alte Verheißung, dass der Durchbruch zur Eigentlichkeit erst noch bevorsteht.

Die Globalisierung hat die Linke in eine Krise gestürzt

Das wär’s dann auch schon mit dem Kernbestand moderner linker Überzeugungen. Hinzu kommt vielleicht noch der notorische linke Internationalismus. Die Solidarität der Abhängigen macht in der Theorie vor Grenzen nicht halt.

Hört sich doch noch immer gut an. Aber die Globalisierung hat auch die Linke in eine Krise gestürzt. Was heißt das nun alles in einer sich rasant wandelnden Welt? Was heißt denn noch „abhängig beschäftigt“ in einer digitalisierten Welt voller scheinselbstständiger computerisierter Heimwerker, die von Werkauftrag zu Werkauftrag ziehen? Welchen Wert hat die von Linken immer vertretene europäische Einigung, wenn die EU zum Instrument einer brutalen Sparpolitik wird? Was heißt internationale Solidarität, wenn plötzlich Millionen von Zuwanderern an die Pforte zum Wirtschaftswunderland klopfen?

„Syriza“ als linke Spielart der Politikverdrossenheit

Fragen gibt es viele, Antworten wenige. Und wenn, sind sie so bunt wie die Welt. Zur Erinnerung: Jeroen Dijsselbloem, der niederländische Finanzminister, der die Sparpolitik der EU in Griechenland durchpaukte und dort in einer atemberaubenden Karriere zum bestgehassten Mann aufstieg, ist Sozialdemokrat.

Wer aber keine Antworten hat, der wird übergangen. Das politische Pendel schlägt gerade mächtig in eine andere Richtung aus. Renationalisierung, Abschottung, EU-Kritik stehen in vielen Ländern auf der Tagesordnung. Und es gibt auch linke Spielarten der Politikverdrossenheit. „Podemos“ in Spanien, „Syriza“ in Griechenland sind wilde und theoretisch wenig fundierte Proteste gegen „die da oben“. Aber in ihrer wilden Hoffnung haben sie auch etwas vom euphorischen Charme des alten Aufbruchs. Aber ach, man ahnt sein Ende.