Politik im Internet: Der Erfolg der Piratenpartei zeigt, wie wichtig das Netz geworden ist.

Stuttgart - Der Erfolg der Piratenpartei in Berlin zeigt, dass man auch ohne politisches Programm und mit einer Internet-Kampagne Wähler gewinnen kann. Gibt das Netz künftig der Politik den Takt vor? Wie stark beeinflusst es die demokratische Entscheidungsprozesse?

Ein paar Klicks und schon mischt man in der Politik mit. Das Internet macht möglich, was vor wenigen Jahren noch unmöglich schien. Die APO (außerparlamentarische Opposition) von heute geht nicht mehr mit Transparenten und Plakaten auf die Straße, um ihren Unmut über die Regierenden zum Ausdruck zu bringen, sondern online als digitale Opposition.

So geschehen am vergangenen Sonntag in Nürtingen. In der 40000-Einwohner-Gemeinde fand eine kuriose Wahlposse ihr Ende: Die Stadt hat ihren Oberbürgermeister Otmar Heirich (SPD) behalten. Er siegte im zweiten Wahlgang mit 49,6 Prozent der Stimmen über seine Internet-Konkurrentin wider Willen, Bürgermeisterin Claudia Grau (parteilos). Grau, die auf 32 Prozent kam, war gegen ihren Willen von Sympathisanten via Internet auf den Schild gehoben worden. In sozialen Netzwerken waren die Wähler aufgerufen worden, Grau nachträglich auf den Stimmzettel zu schreiben.

Die Parteilose hatte zuvor erklärt, dass sie nicht zur Wahl stehe und mit der Kampagne im Netz nichts zu tun habe. Amtsinhaber Heirich vermutet hinter der "höchst befremdlichen" und "undemokratischen" Internet-Aktion Leute "aus der links-alternativen Ecke", die ihren Spaß haben wollten.

Ist dieser Schabernack ein Beweis für die Schattenseiten der E-Democracy? Elektronische Demokratie ist ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Formen politischer Meinungsbildung und Partizipation vor allem über das Internet. Markus Beckedahl gehört zu denen, die sich bestens mit der Rolle des Internets für Politik und Demokratie auskennen. Der 35-Jährige Berliner ist netzpolitischer Aktivist und Gründer von "netzpolitik.org", dem meistverlinkten Blogg in Deutschland. 2010 wurde er durch die Grünen als Sachverständiger in die Enquete-Kommission des Bundestages "Internet und digitale Gesellschaft" berufen.

"Das Beispiel Nürtingen zeigt, dass man ad hoc über das Netz neue Öffentlichkeiten schaffen und damit auch Wahlen beeinflussen kann", sagt Beckedahl. Wenn die Bürger mit Politikern unzufrieden seien, würde eine Stimmung und Motivation entstehen, sich für einen Wechsel zu engagieren. Der Aufwand dafür sei im digitalen Zeitalter weit geringer als früher, als man auf die Straße gehen musste, um zu demonstrieren. Heute reicht es eine Nachricht oder einen Wahlaufruf über ein soziales Netzwerk weiterzuleiten. Beckedahl: "Das Internet erweist sich für die Demokratie als sehr gute Mobilisierungsplattform. Menschen können unabhängig von Zeit und Ort sehr niederschwellig und schnell miteinander kommunizieren und Informationen weitertragen. Das ist das Neue am Netz."

Wie Beckedahl ist auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz Mitglied der Enquete-Kommission. Seiner Meinung nach zeigt die Nürtinger OB-Wahl, wie groß das Bedürfnis sei, stärker an politischen Entscheidungsprozessen teilzuhaben. Notz hält Deutschlands repräsentative Demokratie generell für einen "guten und funktionierenden Mechanismus, der sich durch die digitale Partizipation erneuern kann". Der 40-jährige Rechtsanwalt aus dem schleswig-holsteinischen Mölln sieht allerdings auch die Grenzen der Online-Beteiligung des Bürgers. "Man wird nicht alle möglichen Entscheidungen den Menschen im Netz aufs Auge drücken können, weil viele weder Lust noch Zeit haben sich mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen."

Internet - das politische Instrument des neuen Jahrtausends

Als Kommunikationsplattform ist das Netz - was Schnelligkeit und Vernetzung der Nutzer angeht - unschlagbar. Es ist zweifelsohne das politische Instrument des neuen Jahrtausends - wie auch die Umbrüche via Twitter und Facebook in Tunesien und Ägypten zeigen. Doch für eine demokratische Gesellschaft heißt das noch lange nicht, dass die oft diffuse und wahllose Kommunikation im Web 2.0 auch zu einer breiten politischen Kommunikation wird. Die Bürger können sich zwar online organisieren und Forderungen formulieren. Diese in die Tat umzusetzen und sich für mehr politische Teilhabe in der Gesellschaft einzusetzen, funktioniert aber nur offline - in der real existierenden Politik.

Für den Berliner Medienwissenschaftler Stefan Münker, Privatdozent an der Berliner Humboldt-Universität, ist das "Internet keine Gegenwelt, die Utopien realisiert." Die Frage, ob etwas gemacht wird, entscheide sich nicht im Netz, sondern in der Gesellschaft. "Sie müssen erst die Parlamente und Parteien dazu bewegen, dass sie teilnehmen, damit das Spiel auf institutionell-politischer Ebene stattfinden kann."

Auch wenn das Internet für die meisten so selbstverständlich geworden ist, dass es aus ihrem Alltag nicht mehr wegzudenken ist, stellt es doch nur ein technisches Hilfsmittel dar. Das Netz schafft vielfältige Möglichkeiten, um schnell an Informationen zu kommen und am politischen Geschehen teilzuhaben. Online-Diskussionen, -Petitionen und -Kampagnen sind konkrete Beispiele, wie der Bürger via Internet Einfluss auf die verschiedenen Politikfelder nehmen kann. Um politisch mitzugestalten genügt das Online-Engagement allerdings nicht, wie auch Münker unterstreicht. "Wenn sie als Vertreter einer digital-kritischen Avantgarde in Deutschland Politik machen wollen - auf institutionelle Art und Weise - müssen sie einer Partei beitreten."

Im Netz hat sich eine Art direkte Demokratie etabliert, in der jeder seine Meinung frei äußern kann. Wer nach Argumenten für oder gegen etwas sucht, wird online fündig. Doch wie soll eine große Zustimmung zu einer Internetkampagne politisch umgesetzt werden? Eine hohe Klickrate ist nicht gleichbedeutend mit einer politischen Abstimmung und Willensbildung. Hinzu kommt, dass das politische Engagement im Internet oft recht kurzweilig und oberflächlich ist. Wenn ein Thema gerade en vogue ist, stößt es auf große Resonanz, um nach kurzer Zeit wieder in der digitalen Versenkung zu verschwinden. Das Netz sei genauso nachhaltig in Sachen politischer Partizipation wie die reale Welt, meint Beckedahl. "Da gibt es keinen Unterschied." Das Mitmachen werde vereinfacht, was aber nicht heißt, dass plötzlich alle Online-Beteiligten motiviert seien, sich in der Demokratie einzumischen.

Dies zeigt sich exemplarisch an der Piratenpartei. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus erhielt sie 8,5 Prozent der Stimmen. Nun müssen die Piraten beweisen, dass sie mehr zu bieten haben als die Forderung nach mehr Transparenz im Netz. "Im Moment sind die Piraten eine Blaupause", betont Beckedahl. Noch sei völlig unklar, wie nachhaltig sie ihre Politik gestalten können. Auf den Aufstieg kann sehr schnell der Abstieg folgen.

Noch werden die Chancen, die das Netz für eine lebendige Demokratie bietet, nur unzureichend genutzt. Laut einer Bundestagsstudie waren 2009 nicht einmal zwei Prozent aller Petitionen, die beim Parlament eingingen, im Internet veröffentlicht worden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Gefahren. So können starke Lobby-Gruppen das Netz nutzen, um etwa über Online-Kampagnen wie in den USA Druck auf missliebige Politiker auszuüben. "Die Gefahr, dass Lobbyisten manipulieren, gibt es offline genauso wie online - im Netz wie in der realen Welt", sagt der Netzaktivist.

Wie Beckedahl sieht auch Münker die politischen Potenziale des Internets "eher positiv". Natürlich gebe es Risiken und Probleme. Aber allein die Tatsache, dass "interaktive Partizipationskanäle" geöffnet worden seien, die es vorher nicht gab, sei zu begrüßen. "Demokratie lebt von der Vielstimmigkeit. Durch das Internet sind viele Stimmen dazugekommen, die man nutzen kann, solange eine Demokratie funktioniert."

Die Enquete-Kommission des Bundestages befasst sich von Notz zufolge vor allem mit der Frage, wie über mehr Transparenz im Netz gesellschaftspolitische Debatten angestoßen werden könnten, die sich "für die Demokratie als wertvoll" auswirken. "Rea-le Beteiligung an der Demokratie bedeutet nicht nur, sein Kreuzchen auf dem Stimmzettel zu machen", sagt der Grünen-Politiker. "Gerade das Internet bietet große Chancen, da sich die Verfügbarkeit von Informationen positiv auf die demokratischen Entscheidungsprozesse auswirkt."