Neugeborene brauchen viel Zuwendung – manchen ist das nicht vergönnt Foto: dpa

Immer dann, wenn ein Fall von schwerer Kindesmisshandlung bekannt wird, ist der Aufschrei groß: Hätte das nicht verhindert werden können? Dies ist das Ziel eines bundesweiten Pilotprojekts, bei dem die Kinder- und Jugendhilfe und das Gesundheitswesen eng zusammenarbeiten.

Stuttgart - In Baden-Württemberg werden jährlich rund 70 000 Kinder geboren. „Etwa ein Zehntel ist gefährdet“, sagt Norbert Metke, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Gefährdet heißt für ihn, dass sie in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, sei es, dass die Familie mit sehr wenig Geld zurecht kommen muss oder dass die Eltern überarbeitet oder psychisch angeschlagen sind. Die Ärzte sprechen von einem bio-psychosozialen Krankheitsgeschehen.

Oft stellen Kinderärzte als Erste fest, dass ihre Patienten im Alter von der Geburt bis zu drei Jahren Leidtragende solch schwieriger Umstände sind. Doch was dann? Jetzt nimmt Baden-Württemberg eine bundesweite Vorreiterrolle ein. Zwischen Ärzten und der Kinder- und Jugendhilfe wurde die erste Rahmenvereinbarung zum präventiven Kinderschutz geschlossen.

Konkret heißt das: Wenn ein Kinderarzt feststellt, dass ein Kleinkind auffallend verschlossen ist, extrem aggressiv etwa auf Geschwister reagiert oder ein riesiges Mitteilungsbedürfnis hat: Dann bleibt es nicht nur bei der Diagnose „Handlungsbedarf“. Der Arzt fragt dann die Eltern, ob das Jugendamt benachrichtigt werden darf. Erste Erfahrungswerte gibt es bereits: „Der überwiegende Anteil nimmt das gerne an“, sagt Metke.

Zuerst füllt der Arzt einen Check-up-Bogen aus, ob er bei seiner Beurteilung richtig liegt. Mit Einwilligung der Eltern wird dann Hilfe angefordert. Das könnte etwa einer Familienhebamme sein, die die Familie – oder alleinerziehende Mütter oder Väter – im Alltag unterstützt. Manchmal helfen schon Elterngespräche, um Probleme auszuräumen. In anderen Fällen sollten sich die Eltern in eine psychiatrische Behandlung begeben. Und wieder in anderen Fällen fehlt einfach Geld: „Ein Drittel der Wohngeldberechtigten beantragt keines“, sagt Metke. „Man muss die Hilfsangebote kennen, um sich abrufen zu können.“

Bislang nehmen von den rund 800 Kinderärzten im Land 46 an dem Pilotprojekt teil, 56 haben sich angemeldet. Sie müssen eine einmalige Schulung absolvieren und dann regelmäßig an Qualitätszirkeln „Frühe Hilfen“ teilnehmen. Dieser zusätzliche Einsatz wird honoriert: Für das Erkennen eines Falls, wo frühe Hilfen notwendig sind, erhalten sie zehn Euro, dann noch 20 Euro für ein Beratungsgespräch. Bis zu drei solcher Gespräche innerhalb von drei Jahren werden bezahlt. „Das sind maximal 70 Euro pro Kind“, rechnet Norbert Metke vor. „Bei 7000 gefährdeten Neugeborenen wären das „Peanuts für unsere reiche Gesellschaft“.

Metke hofft mit solchen Parolen, weitere Partner ins Boot zu holen. Bislang werden die „Frühen Hilfen“ getragen vom Städtetag, vom Landkreistag , von der Kassenärztlichen Vereinigung – und 26 Betriebskrankenkassen. Die anderen Kassen haben sich noch nicht angeschlossen.

Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) misst dem Projekt eine hohe Bedeutung bei: „Ich hoffe, dass von Baden-Württemberg eine Signalwirkung ausgeht, die auch andere Kassenverbände ermutigt, den Weg des BKK-Landesverbands Süd zu gehen.“ Dessen stellvertretender Vorsitzender, Jürgen Thiesen, sagt: „Die Betriebskrankenkassen pflegen ein enges Verhältnis zu ihren Versicherten. Die Frühen Hilfen sind eine sinnvolle Investition in die Zukunft.“ Untersuchungen belegten, dass durch frühzeitige koordinierte Hilfsangebote höhere Folgekosten vermieden werden könnten.

Jörg Backes vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen verweist auch auf den „Mehrwert für die beteiligten Ärzte“. Sie seien in einen regelmäßigen fachlichen Austausch eingebunden und gut vernetzt. Bei besonders schwierigen Fällen findet ein interdisziplinärer Austausch zwischen Ärzten und Jugendhilfe statt. Am 26. November werde das Modell in Berlin auf einer Fachtagung vorgestellt. „Ich bin überzeugt, dass es ein Leuchtturmprojekt wird“, sagt Norbert Metke.