Volksabstimmung: Bundesverkehrsminister Ramsauer warnt die Landesregierung vor "Augenwischerei".

Berlin - Im Interview appelliert der CSU-Politiker an die Bürger im Südwesten: Der Bahnhofsneubau in Stuttgart und die damit verbundene Neubaustrecke sind eine Chance, die sich nur einmal alle 100 Jahre bietet.

Herr Ramsauer, was ist die Botschaft des Bundesverkehrsministers an die Bürger im Südwesten vor dem Volksentscheid?

Der Bundesverkehrsminister mischt sich grundsätzlich nicht in Plebiszite auf Länderebene ein. Allerdings ist er gefordert, auf gewisse Risiken und Nebenwirkungen hinzu-weisen.

Und was würden Sie auf den Beipackzettel des Volksentscheids schreiben?

Stuttgart 21 ist ein Projekt von enormer Bedeutung auf nationaler und europäischer Ebene. Ich nenne hier nur beispielhaft die Beschleunigung des Passagierverkehrs auf der Strecke Paris-Stuttgart-München-Wien. Schnelle Bahnverbindungen sind attraktive Alternativen zum Kurzstreckenflug. Darüber hinaus ist es für das Land Baden-Württemberg die einmalige Chance, einen höchst modernen Bahnknoten zu bekommen. Für die Stadt Stuttgart stellt das Projekt eine städtebauliche Jahrhundertchance dar. Divisionen von Bürgermeistern anderswo in Deutschland würden sich die Finger danach lecken, im Innenstadtbereich 90 Hektar, also fast einen Quadratkilometer Land, zur freien Verfügung zu haben: für innerstädtisches Leben und Wohnen, Kultur, Arbeitsplätze und Gewerbe. Man kann es auch in Euro und Cent ausdrücken, worum es für den Südwesten geht: Bei einem Ausstieg aus dem Projekt, was glatter Vertragsbruch wäre, kämen Schadenersatzforderungen von 1,5 Milliarden auf den vertragsbrüchigen Partner zu.

Angenommen, es gäbe ein Nein zum Bahnhofsneubau, würden Sie dann dennoch die Strecke Wendlingen - Ulm bauen?

Der Bund ist bei der Neubaustrecke einer von drei Vertragspartnern - Bund, Land und Bahn. Der Bund hat, ebenso übrigens wie die anderen Beteiligten, stets deutlich gemacht: Stuttgart 21 und die Neubaustrecke gehören zusammen. Sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Es ist glasklar: Bricht ein Projekt weg, hat das Folgen für das andere. Ohne S 21 müsste eine vollständig neue Planung für die Einbindung der Neubaustrecke in den Knoten Stuttgart erfolgen. Das bedeutet viel Zeit und erhebliche Kostenrisiken. Dies hat Folgen für die zeitliche Realisierung der Neubaustrecke und würde auch ihre Wirtschaftlichkeit beein-flussen.

Das Land schießt auch Geld zur Neubaustrecke hinzu, obwohl sie eigentlich vom Bund finanziert werden müsste. Immerhin geht es um knapp eine Milliarde Euro. Wäre es für Sie nicht schmerzhaft, darauf zu verzichten?

Es wäre schmerzhaft für das Land, auf die Neubaustrecke zu verzichten. Die Landesmittel dienen ja dazu, dass die Neubaustrecke beschleunigt wird und beide Projekte - S 21 und die Neubaustrecke - gleichzeitig fertig werden. Das steht aber derzeit gar nicht zur Diskussion. Bislang hat kein Projektbeteiligter mit dem Ausstieg gedroht. Ich räume aber ein: Wenn sich das Land zurückziehen würde, wäre dies höchst bedauerlich. Denn die Neubaustrecke hat überregionale Bedeutung.

Im Südwesten nähren die Grünen aber die Hoffnung, dass bei einem Aus für S 21 mehr Geld für andere wichtige Bahnprojekte im Land zur Verfügung stünden. Was halten davon?

Das ist Augenwischerei. Der Bund gibt zum Bahnhof 563 Millionen Euro als Festbetrag dazu. Ich verweise ausdrücklich darauf, dass diese Beteiligung des Bundes speziell und exklusiv an das Bauprojekt Stuttgart 21 gebunden ist. Sollte, wovon derzeit niemand ausgeht, Stuttgart 21 doch nicht zustande kommen, so steht dieses Geld selbst-verständlich nicht für ein anderes Bahnprojekt in Baden-Württemberg zur Verfügung.

Die Badener machen sich allerdings Hoffnungen, dass bei einem Aus für Stuttgart 21 Geld für das dritte und vierte Gleis der Rheintalbahn und die Lärmschutzmaßnahmen da wäre . . .

Das geht schon deshalb nicht, weil die Rheintalbahn ein Bedarfsplanvorhaben ist und Stuttgart 21 nicht. Die Mittel sind fest gebunden an den Bahnhofsneubau in Stuttgart. Bundesweit gibt es viele wichtige Bahnprojekte, die finanziert werden müssen. Dieses Geld ist nicht für den Südwesten reserviert. Im Übrigen kann nicht die Rede davon sein, dass für die Bahn im Südwesten kein Geld da ist: Der Bund hat für die Bahn in ganz Deutschland rund vier Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. 2010 haben wir in Baden-Württemberg allein 610 Millionen ausgegeben, 2011 geben wir 850 Millionen aus - Stuttgart 21 noch nicht einmal mit eingerechnet. Da kann kein Mensch behaupten, dass Stuttgart 21 andere Bahnprojekte im Land kannibalisieren würde.

Und was das Rheintal angeht: Wir haben hier einen festen Dialog mit den Bürgern, in dem eigens dafür gegründeten Projektbeirat. Die Badener wissen daher, dass wir etwa für den Abschnitt 9.0 zusätzlich Mittel bereit gestellt haben.

DB-Chef Grube droht der baden-württembergischen Landesregierung bei einem Ausstieg mit Schadenersatzforderungen von 1,5 Milliarden Euro. Finden Sie das nicht ein wenig zu forsch?

Rüdiger Grube ist der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft, ich bin der Bundesverkehrsminister und verkörpere den Eigentümer. In dieser Sache erfüllt Herr Grube exakt meine Erwartungen: Er muss alle Rechte des Eigentümers wahren. Er kann gar nicht anders, als die Beteiligten auf mögliche Konsequenzen hinzuweisen. Ich halte auch die Zahl von 1,5 Milliarden für plausibel. Dass sie nicht zu hoch gegriffen ist, geht aus den vorliegenden Expertisen hervor.

Wie arbeiten Sie mit einer Landesregierung zusammen, die in dieser zentralen Frage zerstritten ist?

So etwas habe ich in meiner gesamten politischen Laufbahn noch nie erlebt: Ich habe es mit einer Landesregierung zu tun, die völlig gespalten ist. Die Grünen sagen dies, die SPD sagt das Gegenteil. Das ist ein echtes Problem, insbesondere bei Stuttgart 21.

Der Streit mit ihrem Kollegen im Land, Winfried Hermann, ist wiederholt eskaliert, ist eine Zusammenarbeit da überhaupt möglich?

Durchaus, es läuft völlig pragmatisch. Wir kennen uns gut, wir haben schließlich fast zwei Jahre zusammen gearbeitet, er als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Deutschen Bundestag, ich als zuständiger Minister. Ich habe gerade eben noch mit ihm telefoniert. Es ging um Neckarschleusen, er wollte aber auch wissen, wie viel Geld von der Milliarde, die wir jetzt mehr für Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung haben, nach Baden-Württemberg geht.

Und wie läuft es mit Herrn Kretschmann?

Ebenfalls pragmatisch. Mit dem Ministerpräsidenten arbeite ich vertrauensvoll zusammen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen der Bundes- und der Landesregierung konstruktiver ist als zwischen Grünen und SPD innerhalb der Koalition in Stuttgart.

Im Land gibt es eine Debatte, ob das Quorum von 33 Prozent bei der Volksbefragung zu hoch ist . . .

Ich bin seit über drei Jahrzehnten als Politiker tätig, immer wieder mache ich eine Erfahrung, die mich sehr nachdenklich stimmt: Diejenigen, die am lautesten eine Bürgerbeteiligung fordern, wollen davon plötzlich nichts mehr wissen, wenn ein Plebiszit nicht mehr so auszugehen scheint, wie sie sich das vorgestellt hatten. Regeln sind aber dafür da, dass sie eingehalten werden. Sie dürfen nicht so hingebogen werden, damit sie den Beteiligten passen.