Von diesem Gleis starteten die Züge in die Vernichtungslager. Foto: Sandra Hintermayr

Mit der Otto-Hirsch-Auszeichnung werden drei Beispiele vorbildlicher Erinnerungskultur gewürdigt: der „Lernort Gedenkstätte“ der Jugendhausgesellschaft, der Stadtjugendring und an der Verein Zeichen der Erinnerung.

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Die Otto-Hirsch-Auszeichnung geht in diesem Jahr an den „Lernort Gedenkstätte“ der Jugendhausgesellschaft, an den Stadtjugendring und an den Verein Zeichen der Erinnerung. Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit GCJZ) und die Stadt würdigen damit den Einsatz für Toleranz und gegen das Vergessen.

„Unsere Pflicht als Generation derer, die die Zukunft des Landes mitgestalten, ist es, nicht zu vergessen. Und dafür einzutreten, dass Toleranz gegenüber Andersdenken gelebt und kulturelle und religiöse Vielfalt als Reichtum empfunden wird.“ Dieses Bekenntnis des Waldorf-Schülers Jonathan Winkler anlässlich der Gedenkfeier 70 Jahre Deportation an der Gedenkstätte Zeichen der Erinnerung macht die Wahl der Adressaten der Auszeichnung deutlich. Ihre außerschulische Bildungsarbeit nennt Michael Kashi vom IRGW-Vorstand vorbildlich: „Wir dürfen uns darüber glücklich schätzen, denn die Fundamente für Werte, Einstellungen und späteres Handeln werden wesentlich in der Jugend gelegt.“

Rundgänge zu den Spuren jüdischen Lebens

„Diese Auszeichnung ist uns eine große Freude und auch Ehre“, sagt Alexander Schell, Geschäftsführer vom Stadtjugendring Stuttgart (SJR) e.V. der als Dachverband von Stuttgarter Jugendverbänden, Gruppen und Initiativen für 130 000 Kinder und Jugendliche aller Nationen, Kulturen und Religionen steht. „Seit vielen Jahren veranstaltet er Stadtrundgänge zu den Spuren des jüdischen Lebens, des Dritten Reiches oder der Deportationen“, schreibt Kashi in seiner Begründung dieser Wahl.

Nichts kann die Geschichte lebendiger und eindrücklicher werden lassen als die Begegnung mit Zeitzeugen. Diese Möglichkeit bietet der Stadtjugendring zusammen mit den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen Jugendlichen mit der Filmreihe „Fragezeichen“, die 2012 startete. Für dieses ambitionierte Projekt gegen das Vergessen konnten junge Menschen ehemalige jüdische Mitbürger wie Charlotte Isler in New York oder Henry Stern und Ruchama Neumann in Israel zu ihren persönlichen Schicksalen, Ausgrenzung und Flucht befragen. „Die Stadt hat das Projekt ursprünglich mit 60 000 Euro unterstützt und nun weitere Mitteln zur Verfügung gestellt“, sagt Schell. „Die Resonanz in den Schulen von Hauptschulen bis Gymnasien auf unsere Angebote ist gleichbleibend groß“, so Schell, der den Einsatz der vielen Ehrenamtlichen hervorhebt. Zusammen mit den Stolperstein-Initiativen habe man ein neues Projekt über das Menschenbild im Nationalsozialismus begonnen. Außerdem habe die Stadt für die Arbeit gegen den aufkommenden Rechtsradikalismus eine 50-Prozent-Stelle bewilligt.

Eine App führt zu den Orten der Geschichte

Nicht allein bei der Vergangenheit stehen bleiben will auch der „Lernort Gedenkstätte“, der 2007 von der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft gegründet worden ist. Die Shoah und die Spurensuche zu Orten der Geschichte wie die Stationen der Deportation vom Killesberg bis hinunter zum Nordbahnhof spielten zwar die erste Rolle, „doch wir wollen den Transfer in die heutige Zeit und zu den aktuellen Anforderungen herstellen“, sagt Sieghardt Kelle, Geschäftsführer der Jugendhausgesellschaft. In der Erziehung zu aktivem Demokratieverständnis und gegen Menschenfeindlichkeit werde flexibel auf die heterogenen Lerngruppen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund reagiert. Sie seien selbst an der Entwicklung und Umsetzung von Programmen beteiligt. Beispielsweise mit einer App „Go-Stuttgart“, die einen zeitgemäßen Zugang zu den Orten der Geschichte eröffnet.

Ort der Erinnerung bewahrt

Gleise, die von 1941 bis 1944 für mehr als 2000 Juden aus dem Südwesten den Leidensweg in die Konzentrationslager und in den Tod markierten, und eine Mauer mit einer Liste von Namen der Opfer: „Es ist insbesondere das Zeichen der Erinnerung am Stuttgarter Nordbahnhof, das junge Menschen tief berührt und einen Zugang auf emotionaler Ebene eröffnet“, begründet Michael Kashi die Auszeichnung für den Verein Zeichen der Erinnerung. Und damit in erster Linie an Architekt Roland Ostertag. Denn er war es, der diese Gedenkstätte zusammen mit der Stiftung Geißstraße und den Anstiftern initiierte und dafür kämpfte, dass der jahrelang unbeachtete Ort der Deportation nicht auch noch der Planung für Stuttgart 21 zum Opfer fiel. Am 14. Juni 2006 wurde die Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben. „Wir werden uns fragen lassen müssen, warum wir mehr als 64 Jahre brauchten, um uns hier der Vergangenheit zu stellen“, sagte Ostertag damals. Von dieser Haltung weicht der „unbeugsame Demokrat und glühende Stuttgarter“, so Bürgermeister und GCJZ-Vorsitzender Martin Schairer, auch jetzt nicht ab. Er empfinde zwar Genugtuung über die Auszeichnung, aber er verbindet damit die Aufforderung an die Stadt und Verantwortlichen, „endlich, spät, aber nicht zu spät, ein klares und zukunftsorientiertes Konzept zum Umgang mit der Vergangenheit zu erarbeiten und zu befolgen“.

Seit 1985, erstmals zum 100. Geburtstag von Otto Hirsch, wird in seinem Namen eine Auszeichnung an Personen verliehen, die sich um die christlich-jüdische Zusammenarbeit besonders verdient gemacht haben. Ganz im Sinne von Otto Hirsch (1885-1941), der in Stuttgart 1926 das Jüdische Lehrhaus gegründet hatte, Zehntausenden von Glaubensgenossen die Flucht ermöglicht und damit deren Leben gerettet hatte und selbst im KZ Mauthausen ermordet wurde. Die Auszeichnung wird 23. Februar, 18 Uhr, im Rathaus vergeben.