Probenszene aus „Jakob Lenz“ mit John Graham-Hall (Kaufmann, links), Georg Nigl (Lenz) und Henry Waddington (Oberlin) Foto: Uhlig

Die erste Saisonpremiere der Oper Stuttgart ist an diesem Samstag Wolfgang Rihms Kammeroper über Georg Büchners „Lenz“ gewidmet. Ein Gespräch mit der Regisseurin.

Stuttgart - Frau Breth, „Jakob Lenz“ stammt aus den 70er Jahren. Hört man dem Stück sein Alter an?
Nein, überhaupt nicht. Weder musikalisch noch inhaltlich.
Wir erleben in der Oper eine doppelte Spiegelung: Der Schriftsteller Georg Büchner spiegelt sich an dem Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, und der Komponist Wolfgang Rihm spiegelt sich an Georg Büchner. Sieht man das auf der Bühne?
Ja.
Können Sie verraten, wie Sie das machen?
Nein. Eine Premiere ist wie ein Weihnachtsgeschenk. Da sagt man auch nicht vorher, was man eingepackt hat.
Was gibt das Stück selbst vor?
Es setzt sich aus 13 Bildern zusammen. Das sehr gute Libretto von Michael Fröhling übernimmt Situationen und Dialogmomente aus Büchners „Lenz“-Novelle, enthält aber auch Gedichte von Lenz selbst sowie Zitate aus Briefen von Lenz’ Freunden und aus der Hauptquelle Büchners, dem Rechenschaftsbericht des Pfarrers Oberlin. Drei Wochen war der an Schizophrenie erkrankte Lenz bei ihm zu Gast in den Vogesen, doch der erhoffte Heilungserfolg blieb aus. Die Verschiebung und Fragmentierung der Texte bringt die Spaltung des Lenz sehr gut zum Ausdruck.
Und die Musik von Wolfgang Rihm?
Sie setzt mit einem vergleichsweise kleinen Apparat faszinierende Klangwelten frei: drei Sänger – der Dichter Lenz, sein Gastgeber Oberlin und der gemeinsame Freund und Literat Kaufmann –, ein sechsstimmiges Vokalensemble, dessen Gesänge nur von Lenz wahrgenommen werden, und elf Instrumentalisten. Rihm mischt Anklänge verschiedenster musikalischer Welten von Bach und Schumann bis hin zu Bergs „Wozzeck“ zu einer ganz eigenen, extrem körperlich-sinnlichen Klangsprache.
Funktioniert das auch im großen Opernhaus?
„Jakob Lenz“ ist zwar eine Kammeroper, aber Wolfgang Rihm hat selbst betont, dass das Stück keinesfalls ein „Kammeröperchen“ sei. Die elf Musiker sind in der Lage, alles zum Ausdruck zu bringen, was Rihm sagen will, und entfalten ein dynamisches Spektrum auch in Extrembereiche hinein. Außerdem ist „Jakob Lenz“ ein großartiges Werk, ein Klassiker der zeitgenössischen Oper, der auf eine große Bühne gehört.
Sind die inneren Stimmen des Titelhelden, die Rihm vertont hat, in Ihrer Inszenierung auf der Bühne zu sehen?
Ich habe sie szenisch eingearbeitet. Dass sie seine inneren Stimmen sind, würde sich nicht vermitteln, wenn man sie im Orchestergraben postiert, das wäre zu abstrakt.
Gezeigt wird ein psychischer Verfall.
Das sehe ich nicht ganz so. Ich bemerke keine Veränderung. Lenz ist von Anfang an krank, er bleibt ein doppeltes Ich, wird nur gebändigt durch die Zwangsjacke, die ihm Oberlin und Kaufmann am Ende überziehen. Die Oper hat keine Entwicklung.
Also erleben wir eine Zustandsbeschreibung.
Ja, und der Zustand variiert, so wie es die Musik vorgibt – in jeder Szene hören und sehen wir aus einer anderen Perspektive in Lenz hinein oder aus ihm heraus.
Rihms Stück war auch eine Auflehnung gegen die damalige Musikavantgarde, und Lenz hat sich gegen literarische Restriktionen aufgelehnt. Wogegen revoltiert Ihr Titelheld?
In der sechsten Szene führt Lenz das sogenannte Kunstgespräch mit Kaufmann über die Unterschiedlichkeit ihrer literarischen Auffassungen. Kaufmann steht für den Idealismus, für die Weimarer Literatur, wie sie Goethe geprägt hat. Lenz hingegen ist wie Büchner ein großer Realist. Er hat – etwa in seinem „Hofmeister“ oder in „Die Soldaten“ – Menschen auf die Bühne gestellt, die dort nach Ansicht seiner Zeitgenossen überhaupt nichts verloren hatten. Da erlebt man harsche gesellschaftliche Auseinandersetzungen, bei denen es nicht einfach nur schön und stilisiert zugeht. Damit ist Lenz damals auf völliges Unverständnis gestoßen. Büchner ist es noch ein halbes Jahrhundert später ähnlich ergangen, daher sein Interesse an dem seinerzeit fast vergessenen Sturm-und-Drang-Dichter. Das Schicksal von Lenz ist Büchner aber auch deshalb nah, weil er Mediziner war. Er hat versucht, den Menschen von diesen Grenzbereichen zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Rationalität und Wahnsinn aus zu verstehen.
Steht Ihnen Lenz auch nah?
Ich bin nicht Lenz. Ich identifiziere mich nicht. Ich bin nur diejenige, die die Geschichte im Sinne der Vorlage erzählt. Und Lenz’ Gefühl einer Leere in einer Welt, aus der alles Wichtige herausgebombt worden ist, entspricht absolut unserer Zeit.
Ist „Jakob Lenz“ leicht zu inszenieren?
Nein, denn Rihms Musik und der Struktur der Oper kann man nicht mit Realismus begegnen. Gezeigt werden Innenwelten, die sich ständig verschieben. Diese Extremzustände muss man ins Bild bringen. Das ist eine Herausforderung für die Regie wie für die Sänger, denn bereits rein vokal sind die Ansprüche immens, die Wolfgang Rihm stellt.
Sie haben immer wieder Opern inszeniert. Schränkt es Sie nicht ein, wenn die Musik, die Partitur das Tempo vorgibt?
Das ist aber doch großartig, wenn es gut komponiert ist. Zumindest ist es ein Geländer, das man im Schauspiel nicht hat. Dort muss ich den Rhythmus formen, und die Emotionalität einer Oper bekäme ich im Schauspiel nie hin. Gleichzeitig macht es eine Operninszenierung möglich, zu ganz anderen inszenatorischen Formen zu kommen, die poetischer sind und weniger realistisch – eben weil es hier Musik gibt.
Haben Sie sich das Stück ausgesucht?
Ja, und wunderbarerweise darf ich das hier jetzt machen. Es ist ja nicht der Normalfall, dass sich Opernhäuser auf die Wünsche von Regisseuren einlassen.