OB Schuster wendet sich in einem offenen Brief an "alle Bürgerinnen und Bürger Stuttgarts". Foto: dpa

OB Wolfgang Schuster fordert in einem Offenen Brief S-21-Gegner zur Besonnenheit auf.

Stuttgart - Kurz vor der angekündigten Großdemo am Freitagabend, wendet sich OB Wolfgang Schuster in einem offenen Brief an "die Bürgerinnen und Bürger Stuttgarts".

Der Rathauschef  betont darin, dass er zwar Verständnis dafür habe, dass Bürgerinnen und Bürger das Projekt Stuttgart 21 kritisch beurteilen und ihr Recht zu demonstrieren wahrnehmen. Gleichzeitig  habe er aber auch "die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, die nicht demonstrieren und sich unbelästigt in der Stadt aufhalten, den ÖPNV nutzen, das Weindorf und das kommende Volksfest besuchen möchten." 

Besorgt zeigt sich Schuster über "verantwortungslose Scharfmacher", die  "zur Radikalisierung beitragen". Laut Schuster liegt es "in der Verantwortung der Organisatoren der Proteste, vor allem der Grünen, diesen gefährlichen Entwicklungen Einhalt zu gebieten."

Der Brief im Wortlaut:

Stuttgart ist mehr als lautstarke Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Trotz vieler Demonstrationen kümmern wir uns im Rathaus um Ihre täglichen Sorgen, Nöte und Anliegen. Dies wollen wir weiterhin zur Zufriedenheit von Ihnen allen tun. Dazu gehört auch, dass Sie trotz zum Teil überzogener Aktionen von Demonstranten rechtzeitig zur Arbeit kommen und sich sicher in unserer Stadt bewegen können. Deshalb bin ich den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten dankbar, dass sie mit großer Besonnenheit für unsere Sicherheit und Ordnung sorgen. Ich habe Verständnis, dass Bürgerinnen und Bürger das Projekt Stuttgart 21 kritisch beurteilen und ihr Recht zu demonstrieren wahrnehmen. Ich habe aber auch die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, die nicht demonstrieren und sich unbelästigt in der Stadt aufhalten, den ÖPNV nutzen, das Weindorf und das kommende Volksfest besuchen möchten. Die Freiheit ist stets die Freiheit der Andersdenkenden (Rosa Luxemburg). Bei aller unterschiedlicher Bewertung des Bahnprojekts und der zukünftigen städtebaulichen Entwicklung habe ich kein Verständnis für persönliche Diffamierungen, Beleidigungen, mit denen Stuttgart 21-Befürworter eingeschüchtert, genötigt und zum Teil auch bedroht werden.

"Verantwortungslose Scharfmacher tragen zur Radikalisierung bei"

Ich sehe mit Sorge, dass verantwortungslose Scharfmacher zur Radikalisierung beitragen. Es liegt in der Verantwortung der Organisatoren der Proteste, vor allem der GRÜNEN, diesen gefährlichen Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Wir leben in einer Demokratie, die erfolgreich für alle wirkt, wenn sich alle an die von den gewählten Vertretern beschlossenen Regeln halten. Über 15 Jahre wurde das Bahnprojekt öffentlich diskutiert, abgewogen und letztlich mit über 75 % der Stimmen vom Europaparlament, vom Bundestag, vom Landtag, von der Regionalversammlung und vom Gemeinderat beschlossen. Die Gerichte haben diese Beschlüsse nach erneuten gutachterlichen Prüfungen bestätigt. Bei diesem langjährigen Prozess haben Befürworter und Gegner alle Argumente eingehend ausgetauscht. Das langwierige Verfahren hat zu einer zehnjährigen Verspätung und zu erheblichen Kostensteigerungen beigetragen. Seit Februar 2010 hat die Bahn als Bauherr mit den Baumaßnahmen begonnen. Stuttgart 21 bedeutet für mich viel Arbeit, viel Ärger und derzeit wenig Popularität. Trotzdem habe ich mich für dieses Projekt eingesetzt und werde dies weiterhin tun. Aus ökologischen und ökonomischen Gründen brauchen wir mehr Verkehr auf der Schiene, ein besseres regionales Zugangebot und eine verbesserte Anbindung an die nationalen ICEs und das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz.

"Herausragende städtebauliche Chance"

Die Mehrzahl unserer Arbeitsplätze ist vom Export abhängig. Deshalb müssen wir als Wirtschaftsregion künftig besser erreichbar sein. Die verkehrlichen Alternativen, den Ausbau des Stuttgarter Flughafens zu einem Großflughafen sowie der massive Ausbau der Autobahnen halte ich für ökologisch nicht vertretbar. Für uns Stuttgarter öffnet Stuttgart 21 zugleich eine herausragende städtebauliche Chance. „Bei Stuttgart 21 geht es um die Rücknahme der zerstörerischen Eingriffe zu Beginn des letzten Jahrhunderts, als eine gigantische Eisen- und Schotterfläche an das Herz der Stadt herangeführt wurde“, so die Architektenkammer Baden- Württemberg und der Bund Deutscher Architekten. Die Stadt hat die über 100 ha frei werdenden Gleisflächen gekauft, damit wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern in den nächsten Jahren ein städtebauliches Konzept entwickeln können. Dazu gehören u. a. die Erweiterung des Schlossgartens und des Rosensteinparks um rund 20 ha und das Pflanzen von Tausenden neuen Bäumen. Damit dieses große neue Stadtviertel ein lebendiges Teil Stuttgarts wird, wollen wir es mit Ihrer Beteiligung organisch entwickeln. Dabei sollte eine Vielfalt von Wohnformen und Arbeitsmöglichkeiten in einem CO2-freien Stadtviertel unser gemeinsames Ziel sein. Das Projekt Stuttgart 21 ist groß, kompliziert, langwierig, kostenaufwendig und mit baulichen Erschwernissen verbunden. Trotzdem ist es richtig und wichtig, weil dieses größte Ökologieprojekt der Stadt, der Region und des Landes ganz wesentlich zur Zukunftsfähigkeit unserer Stadt beiträgt. Stuttgart 21 dient unseren Kindern und Enkelkindern. Seien Sie versichert: Ob Sie Stuttgart 21 gut finden oder ablehnen, wir sind Tag für Tag für Sie alle da.