Thomas Piketty bei einem Vortrag in Cambridge Foto: Sue Gardner

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ eine weltweite Debatte darüber ausgelöst, wie Vermögen verteilt werden sollte. Im Interview spricht er über Gerechtigkeit und die Folgen der Euro-Krise.

Paris - Herr Piketty, seitdem Ihr Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in den USA gefeiert wird, ist es ein Bestseller. Brauchte es erst den Umweg über Amerika, um eine Debatte über die ungleiche Verteilung von Kapital auch in Europa anzustoßen?
Im Gegenteil, der Erfolg in Frankreich ging dem in den USA voraus. Bis das Buch auf Englisch erschien, gab es dort schon zahlreiche Artikel. Es ist falsch, die USA immer am Anfang von allem zu sehen. Zuletzt war ich in Korea, Italien, Deutschland – alle Länder diskutieren über Fragen der Gerechtigkeit, auch wenn das Problem der ungleichen Verteilung in den USA besonders ausgeprägt ist. Das dortige Echo auf mein Buch freut mich, aber persönlich interessiert mich die europäische Debatte noch mehr.
Ihre These lautet, dass die Gewinne aus Vermögen schneller wachsen als die Wirtschaft (also die Gewinne aus Arbeit) und daher die Ungleichheit steigt: Die wenigen Reichen werden immer reicher, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Lässt sich das in einer globalisierten Welt überhaupt verhindern?
Die Ungleichheit wächst nicht unendlich an, sondern wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Jedes Land hat Mittel, mit eigenen Entscheidungen in der Steuer- oder Bildungspolitik dagegenzuwirken. Bis zum Ersten Weltkrieg war der Reichtum stark konzentriert. Obwohl das Wirtschaftswachstum in den vorindustriellen Gesellschaften quasi null war, lag die Rendite aus Kapital schon damals bei rund fünf Prozent. Wenn man die Situation in Frankreich in den Jahren 1789 und 1913 miteinander vergleicht, hat sich die Verteilung von Kapital wenig geändert. Auf die Schocks der Weltkriege folgte durch den großen Nachholbedarf ein außergewöhnlich starkes Wachstum, und die Unterschiede gingen zurück. Doch außer in solchen Phasen des Aufholens, wie sie derzeit auch China erlebt, hat ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent nicht Bestand, und man muss sich wieder an ein bis 1,5 Prozent gewöhnen.
Welche Hebel gibt es dann, um die ungerechte Verteilung zu verringern? Ihr Vorschlag einer globalen progressiven Steuer hat großes Aufsehen erregt.
Man kann bereits auf nationaler Ebene viel tun. Ein Beispiel ist die Erbschaftsteuer. Länder mit so unterschiedlichen politischen Traditionen wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA haben sie. Das hat den Kapitalismus nicht getötet. Dagegen hat Berlusconi sie in Italien auf null Prozent gesenkt, was auch nicht zu mehr Wirtschaftswachstum geführt hat, später wurde sie wieder angehoben. Natürlich wäre mehr internationale Kooperation in Steuerfragen wichtig, besonders bei der Gewerbesteuer. Es ist absurd, dass Großkonzerne oft weniger Steuern zahlen als kleine und mittelständische Betriebe.
Warum ist es so schwer, sich auf europäischer Ebene zu einigen?
Weil die europäischen Institutionen mit dem Prinzip einstimmiger Entscheidungen dafür nicht geeignet sind. Das System mit Gipfeln, zu denen jedes Land einen Vertreter schickt, ist völlig ineffizient. In einem Aufruf mehrerer Politologen und Ökonomen schlagen wir ein eigenes Parlament der Euro-Zone vor. Jedes Land wäre im Verhältnis zu seiner Größe vertreten mit Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten. So hätte man in der Krise nicht die katastrophalen Entscheidungen getroffen wie das Bemühen um ein viel zu schnelles Reduzieren des Defizits: Das führte zu Null-Wachstum, Null-Inflation und einer Explosion der Arbeitslosigkeit, vor allem bei den jungen Leuten. Die USA, die in derselben Ausgangslage waren, haben eine andere Strategie gewählt, und heute zeigt sich: Unsere war die falsche. Die Staatsverschuldung in Europa ist zwar hoch, aber nicht höher als in den USA und niedriger als in Japan.
Sie stützen damit Frankreichs Forderung in Brüssel nach mehr Zeit für die Defizitreduzierung?
Die Daten in meinem Buch zeigen: Wenn die Inflation bei null liegt, ist das vielleicht möglich – eilig darf man es aber nicht haben. Wir brauchen gemeinsame Entscheidungen innerhalb der Euro-Zone. Eine Gemeinschaftswährung ohne gemeinsamen Schulden-Fonds und einheitliche Zinssätze ist absurd. Deutschland, Frankreich und die Länder, die quasi keine Zinsen zahlen, waren extrem egoistisch.
Kritiker einer Vergemeinschaftung der Schulden halten es für ungerecht, wenn die Südländer von denselben niedrigen Zinsen profitieren, ohne notwendige Reformen anzugehen.
Was ist gerecht daran, dass Italien sieben Prozent der Wirtschaftsleistung für die Rückzahlung seiner Schulden aufwendet, aber nur ein Prozent für seine Hochschulen? Bereitet man so die Zukunft vor? Die Zinsen für Deutschland und Frankreich würden niedrig bleiben, und Ziel ist ja auch nicht, die Schulden der anderen zu zahlen. Indem manche in der Krise selbst von einem Austreten Griechenlands aus dem Euro sprachen, stellten sie den Euro infrage. Das hat eine Vertrauenskrise der Investoren provoziert. Wir müssen nationale Egoismen ablegen. Man spielt mit dem Feuer: Überall werden euroskeptische Parteien immer stärker, in Frankreich schreitet der Front National voran. Dagegen helfen nur die Verringerung der Arbeitslosigkeit, ein Ende der wirtschaftlichen Stagnation.
Nutzt Ihnen der Erfolg Ihres Buches, um mit Ihren Vorschlägen gehört zu werden?
In erster Linie handelt es sich um die Geschichte über das Kapital und seine Verteilung. Dabei gibt es nicht nur einen einzigen Weg, sie zu interpretieren und Lehren für heute daraus zu ziehen. Es soll einen Beitrag an der Demokratisierung des ökonomischen Wissens leisten, denn es ist der Fehler vieler Ökonomen, so zu sprechen, als handle es sich um eine Wissenschaft, die nur sie verstehen können. Das stimmt nicht: Alle sind betroffen von Fragen der Gerechtigkeit.