Das Brexit-Votum hat die Gesellschaft von Großbritannien gespalten. Foto: AP

David Triesman, Außenpolitiker der Labour Partei im Londoner Oberhaus, hofft auf eine rationalere Debatte, um einen radikalen EU-Ausstieg seines Landes noch abzuwenden.

London - David Triesman, Außenpolitiker der Labour Partei im Londoner Oberhaus, hofft auf eine rationalere Debatte, um einen radikalen EU-Ausstieg seines Landes noch abzuwenden.

Lord Triesman, hoffen Sie als britischer EU-Befürworter nach der jüngsten Gerichtsentscheidung zur Parlamentsbeteiligung eigentlich, dass Großbritannien am Ende vielleicht doch nicht die Europäische Union verlässt?
Nein, nicht wirklich. Es ist jetzt doch schon sehr, sehr wahrscheinlich, dass wir gehen werden. Auch wenn das Referendumsergebnis knapp war, war es eben doch ein Votum für den EU-Austritt. Es geht jetzt nur noch darum, wie wir die Gemeinschaft verlassen und was danach kommt.
Hat es Sie denn überrascht, welch harte Verhandlungsposition Premierministerin Theresa May – angeblich einmal eine EU-Befürworterin – angedeutet hat? Sie scheint die vollständige Zuwanderungskontrolle einem Binnenmarktzugang nach Europa vorzuziehen, sogar die Zollunion mit dem Kontinent erwägt sie aufzukündigen.
Theresa May ist in meinen Augen eine Politikerin ohne pragmatische Ader. Deshalb hat sie die Linie der Brexit-Populisten übernommen. Wenn sie das wie angekündigt umsetzen würde, bekämen wir die schlechteste aller Welten: Eine Studie, die wir im Oberhaus in Auftrag gegeben haben, sieht ohne Binnenmarktzugehörigkeit allein durch die Bürokratiekosten eine Verteuerung unserer Produkte um 14 Prozent. Mit ein bisschen mehr Mut könnte Theresa May aber eine rationalere Debatte über die Einwanderung anstoßen – und im Gegenzug mit den anderen Europäern eine vernünftige Wirtschaftsregelung finden.
Wie soll das gehen, wo die öffentliche Debatte auf der Insel gerade bei diesem Thema extrem vergiftet zu sein scheint?
Wenn Sie die Menschen in meinem Land ganz theoretisch zur Einwanderung befragen, werden tatsächlich sehr, sehr viele Ihnen sagen, dass zu viele Menschen aus fremden Ländern auf ihrer Insel leben, ihnen zu viele Jobs weggenommen sowie das Gesundheits- und Schulsystem unter Druck gebracht haben. Man sollte sie jedoch etwas Anderes fragen: Zum Beispiel, ob sie wollen, dass in ihrem lokalen Krankenhaus ein Drittel weniger Personal nach ihnen schaut. Das würden sie vermutlich verneinen. Und natürlich könnten wir anfangen, mehr Briten entsprechend auszubilden, aber das würde wohl mindestens zehn Jahre dauern, bis genug Ärzte und Krankenschwestern verfügbar wäre – jetzt sind wir aber erst einmal auf die EU-Ausländer angewiesen. Dieselbe Antwort gäbe es wohl, wenn die Briten zu Pflegekräften, Lehrern oder Studenten befragt würden. Stück für Stück könnten wir so vielleicht den Mythos der angeblich so schädlichen Einwanderung durchbrechen und zu einer Austrittsstrategie kommen, die möglichst wenig Schaden anrichtet.
Wie könnte das aussehen?
Ich hoffe, dass wir vielleicht am Ende doch noch das Norwegen-Modell bekommen – in dem wir zwar außerhalb der EU sind, aber dennoch Marktzugang haben und im Gegenzug EU-Ausländer zu uns lassen.
Es gibt ja nicht wenige in Europa, die die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Brexit-Votum mitverantwortlich machen. Gehören Sie dazu?
Das hat meiner Meinung nach das Ergebnis nicht beeinflusst – höchstens am Ende vielleicht den Erfolg der EU-Gegner gefestigt. Das Thema war schon lange zuvor gesetzt, ebenso wie die Wähler sich ihre Meinung, so glaube ich, schon lange zuvor gebildet haben. Als eigentlichen Grund für das Votum sehe ich die Finanzkrise: Viele Menschen haben Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, ihre Arbeitsstelle verloren oder ihr Haus – und wenig von der wirtschaftlichen Erholung abbekommen. Vor allem aber haben sie gesehen, dass diejenigen, die uns das eingebrockt haben, nie wirklich zur Rechenschaft gezogen worden sind. Diese Ungerechtigkeit hat dazu geführt, dass all das, was die Elite des Landes in der Folge vorschlug, zum Beispiel den Verbleib in der EU, auf riesiges Misstrauen stieß. Und es ist leider ein historisch wiederkehrendes Muster, dass sich ein solcher gesellschaftlicher Frust auch gegen Einwanderer richtet.
Was würden Sie sich in den nächsten Monaten oder Jahren von Deutschland und anderen Kontinentaleuropäern erwarten?
Mit unserer Inselhaltung haben wir ignoriert, welchen Schaden wir unseren langjährigen Alliierten und Freunden mit dem Brexit-Votum antun. Die stehen nun vor einem Dilemma: Sie müssen schon aus Selbstschutz extrem hart verhandeln, weil es nicht die geringsten Anzeichen dafür geben darf für andere EU-Staaten, dass sie auch außerhalb der Gemeinschaft alles haben können, was sie von der EU wollen. Diese Härte wird dann all jene Briten frustrieren, denen weisgemacht wurde, dass das möglich ist. Sie werden dann vermutlich den Europäern vorwerfen, ihre schöne Brexitphantasien zerstören zu wollen. Unsere Freunde und Partner können dem aber etwas entgegensetzen, in dem sie während der Verhandlungen ihre Positionen so transparent wie möglich machen, was ich von unserer Regierung leider nicht erwarte.
Das Oberhaus ist keine gewählte Parlamentskammer und entscheidet demnach auch nicht mit über „soft“ oder „hard“ Brexit. Wie wollen Sie dennoch Ihren Einfluss geltend machen?
Wir sind ein ziemlich bunter Haufen mit verdienten Bürgern aus allen gesellschaftlichen Bereichen, der Wissenschaft, der Diplomatie oder der Künste. Das sind alles sehr erfahrene Leute, die sehr ruhig darüber diskutieren können, was in einer bestimmten Situation zu tun ist und welche Optionen uns offenstehen. Das wollen wir herausarbeiten und damit zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Wir müssen endlich anfangen, wie Erwachsene über diese schwierige Lage zu reden.
So wie Ihre Labour-Partei?
Keir Starmer, der bei Labour zuständig für den Brexit ist, schätze ich als außergewöhnlich guten Politiker. Von der Parteiführung kann ich leider nicht behaupten, dass sie in der Lage wäre, die Dinge durchzudenken. Aber das muss den Rest von uns ja nicht davon abhalten.