Enver Simsek wurde regelrecht hingerichtet. Er ist das erste mutmaßliche NSU-Mordopfer. Foto: dpa

Adile Simsek ist eine beeindruckende Frau. Die Witwe des ersten Mordopfers Enver Simsek. das die Zwickauer Terrorzelle laut Bundesanwaltschaft regelrecht hingerichtet hat, ist schwer traumatisiert. Im Gerichtssaal weint sie.

München - Adile Simsek ist eine beeindruckende Frau. Die Witwe des ersten Mordopfers, Enver Simsek, das die Zwickauer Terrorzelle laut Bundesanwaltschaft regelrecht hingerichtet hat, ist schwer traumatisiert. Ihr Mann wurde am 9. September 2000 exekutiert , weil er Türke war. Die Polizei hat lange sie verdächtigt, hinter dem Verbrechen zu stecken – und nicht Rechtsextreme. Darum besucht die Witwe des Nürnbergers Blumenhändlers nicht den NSU-Prozess in München. Sie möchte nicht an diesen Albtraum, den sie erlebt hat, erinnert werden.

Gestern ist sie dennoch zum 21. Prozesstag gekommen, hat vorher eine Beruhigungspille genommen. Ihre Tränen hat das zwar nicht gestoppt. „Doch es war ihr eine Herzensangelegenheit, heute da zu sein“, berichtet ihre Anwältin Seda Basay. Denn Adile Semsik wollte sich bei einem Mann be-danken, der als Zeuge aussagte. Für ihn hat die Witwe ihre Ängste überwunden. Für ihn hat sie die erschütterten Tatortfotos ertragen, die Polizeibeamte im Gerichtssaal zeigten. Für ihn er-trug sie den Schock, als sie erfuhr, dass ihr Mann einen Zahn verloren hat, als die Mörder ihn mit neun Kugeln in seinem Lieferwagen erschossen. Die Spurensicherer fanden den Zahn in der riesigen Blutlache in dem weißen Mercedes-Sprinter.

Das Entsetzen der grausamen Details drückte Adile Simsek weg, weil es ihr wichtig war, diesem einen Mann zu danken. Warum ihr so sehr daran lag? Ganz einfach: Dieser Mann hat sich richtig ver-halten. Und das ist für die Witwe eine rühmliche Ausnahme.

Dieser Mann wollte an jenem heißen Samstag in Nürnberg beim Blumenhändler Enver Simsek einen Strauß kaufen. Doch der Stand an der Liegnitzer Straße war verwaist. Während viele andere Kunden vor ihm sich nichts dabei dachten und weiterfuhren, wartete dieser Mann auf den Händler. Nach rund 15 Minuten verständigte er die Polizei. Mit den Streifenbeamten zusammen suchten die Drei nach dem Vermissten. Als sie die Schiebetür des Lieferwagens am Stand öffneten, fanden sie ihn in einer großen Blutlache. „Er versuchte zu schnaufen, es fiel ihm schwer“, erinnerte sich der besondere Zeuge gestern vor Gericht. Rund zwei Stunden war er wohl so in seinem Kastenwagen gleich neben dem Blumenstand gelegen, im Todeskampf und unbemerkt von vielen Passanten – nur nicht von einem.

Wie es der Zufall will, war dieser eine Mann von Beruf Rettungsassistent und hatte in seinem Wagen Erstversorgungs-Equipment dabei. Der Retter versuchte die Atemwege des Blumenhändlers von dem vielen Blut zu befreien, bis der Rettungswagen eintraf und den Verletzten in die Klinik brach-te. Darum ist Adile Simsek diesem Mann so dankbar. Durch seine Hilfe konnte sie sich noch in der Klinik von ihrem Mann verabschieden, bevor er starb. Ohne seine Hilfe wäre Enver Simsek im Lieferwagen gestorben, da ist sich die Witwe sicher.

Nicht richtig verhält sich dagegen die mutmaßliche Helferin der Mörder, Beate Zschäpe, auf der Anklagebank. Da ist sich die Witwe ebenso sicher. Denn während die erschütterten Tatortfotos im Gerichtssaal gezeigt werden, auch das mit dem Zahn in der Blutlache, macht Beate Zschäpe einen geradezu fröhlichen Eindruck, scherzt sogar mit ihren Anwälten. Das ist kein angemessenes Verhalten, urteilt die Simsek-Anwältin Seda Basay.

Adile Simsek ist aber noch aus einem anderen Grund eine beeindruckende Frau. Denn obwohl sie ein Opfer der jahrelangen falschen Verdächtigungen der Ermittler geworden ist, ist ihr dabei das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht abhanden gekommen. „Mir geht es nicht um die Höchststrafe“, sagt sie nach dem 21. Prozesstag, „sondern um die Aufklärung.“

Ob die Anwesenheit des Mitangeklagten Andre E. und seiner Anwälte bei dieser Aufklärung im Münchner Prozess permanent nötig ist, daran zweifelte die Verteidiger von E. sehr. Sie beantragten darum Urlaub vom Verfahren. Das ist offenbar im deutschen Strafverfahren möglich. Schließlich habe der 33-Jährige mit den meisten Anklagepunkten nichts zu tun, argumentierten seine Verteidiger. Andre E. wird die Unterstützung der Zickauer Terrorzelle vorgeworfen. Er soll das zynische Bekennervideo hergestellt haben. In diesem Video-Clip im Comicstil taucht auch das erste Mordopfer Enver Simsek in seinem Todeskampf im Lieferwagen auf. Seine Mörder hatten ihr Opfer erst mit neun Schüssen niedergestreckt und dann noch Fotos von ihm ge-macht.

Die Richter lehnten den Urlaubswunsch des Angeklagten ab.