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Hauptverdächtige der Terror-Serie vertagt Aussage, Politik trifft sich zum Krisengipfel.

Karlsruhe - Die Mordserie der Thüringer Neonazi-Gruppe hätte womöglich schon vor Jahren gestoppt werden können. Aber Missverständnisse zwischen Ermittlern verhinderten das. Die Panne passt zu dieser Affäre, die immer mysteriöser wird.

Es wird dunkel in Karlsruhe. Mittwochabend, 18 Uhr. Die Geschäfte machen zu, der Feierabendverkehr verstopft die Straßen der Fächerstadt. Bei der Bundesanwaltschaft, einem Bau mitten in der Stadt, geschützt durch fünf Meter hohe Mauern und bestückt mit unzähligen Überwachungskameras, brennen hingegen noch die Lichter. Was drinnen vorgeht? Nichts dringt nach draußen. Wie weit die Ermittlungen gegen die Terror-Zelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) sind? Keine Auskunft. Ob es weitere Verdächtige irgendwo im Bundesgebiet gibt, die mit den mindestens zehn Morden, den unzähligen Anschlägen und Banküberfällen zu tun haben könnten? Keine Auskunft. Ob Beate Z., der Kopf der Neonazi-Zelle, schon ausgesagt hat? Lange herrscht Schweigen. Tags zuvor war durchgesickert, sie wolle am Mittwoch "auspacken". Aber, das macht eine Sprecherin des amtierenden Generalbundesanwalts Rainer Griesbaum am Abend gegenüber unserer Zeitung deutlich, noch habe sie nicht ausgesagt. Gerüchte aus Ermittlerkreisen besagen, Beate Z. wolle nun erst am Donnerstag reden. Die Gründe dafür bleiben unklar. Der Ermittlungsrichter habe Beate Z. auf die Möglichkeit der Kronzeugenregelung hingewiesen, bestätigt Griesbaum.

Strafmilderung gegen Infos

Kein Zweifel: Die Ermittler erhoffen, durch eine mögliche Strafmilderung die Hauptverdächtige dazu zu bringen, alle Gräueltaten der Gruppe zu berichten. Aber auch so wird die Affäre um die Aktivitäten der Neonazi-Zelle und die Rolle, die die Ermittlungsbehörden über Jahre spielten, immer merkwürdiger. Am Mittwoch gibt es mehrere neue Belege dafür, dass Polizei und Staatsanwaltschaften in einzelnen Bundesländern über Jahre hinweg offenbar schlampig gearbeitet haben und die Täter mit ihren Hintermännern ungeniert agieren konnten.

Der erste und zugleich erdrückendste Beleg kommt aus Niedersachsen. Dort wurde Holger G., der mutmaßliche Helfer des Terror-Trios, der seit Anfang dieser Woche in Haft sitzt, bereits im Jahr 1999 observiert, dann aber unbehelligt gelassen. Wie konnte es dazu kommen? Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) und der dortige Verfassungsschutzpräsident Hans Wargel räumen am Mittwoch ein, dass es damals eine Anfrage des Verfassungsschutzes aus Erfurt gegeben habe. Es gehe um Rechtsterrorismus, erklärten die Thüringer und baten ihre Kollegen in Hannover um eine Observation. Holger G. sei als möglicher Freund und Unterstützer des untergetauchten rechten Terror-Trios um Beate Z. im Verdacht. Offenbar, so vermutete man in Erfurt, wolle G. den Dreien ein Quartier im Ausland vermitteln. Und was tat man in Hannover? Man beobachtete Holger G. zwar und gab die Erkenntnisse nach Erfurt, die Informationen legte man aber zu den Akten und löschte den Datensatz im Jahr 2004. Dabei war Holger G. auch für den Verfassungsschutz in Niedersachsen schon damals kein Unbekannter: Als Mitläufer der rechten Szene war er 1999 bei der Hochzeitsfeier einer Neonazi-Größe gesichtet und in der Datei des Verfassungsschutzes erfasst worden. Dennoch leuchtete in Hannover keine Alarmlampe auf. Erklärung von Verfassungschützer Wargel: Es seien unterschiedliche Mitarbeiter gewesen, die sich um die Observation und die Sammlung der Daten gekümmert hätten.

Aber auch an anderer Stelle stellen sich neue Fragen, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn. Die Polizei hatte damals im Zuge der Ringfahndung zahlreiche Autokennzeichen notiert, darunter auch das eines Wohnmobils aus Chemnitz. Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass es offenbar von Holger G. für die potenziellen Polizistenmörder um Beate Z. angemietet, möglicherweise sogar von ihm gefahren worden war. Aber kein Fahnder glich das Kennzeichen mit dem Halter ab. Denn da wäre man auf jenen Holger G. gestoßen. Möglicherweise wäre es eine heiße Spur zur NSU nach Thüringen gewesen. So aber blieb der Polizistenmord viereinhalb Jahre unaufgeklärt - bis vor zwei Wochen nach einem Banküberfall in Eisenach bei den beiden Komplizen von Beate Z. - nämlich Uwe M. und Uwe B. - die Dienstwaffen der Polizisten von Heilbronn gefunden wurden, die einst nach dem Mordanschlag gestohlen worden waren.

USB-Stick mit Politikernamen

Wie gefährlich das Neonazi-Trio aus Zwickau war und welche weiteren katastrophalen Konsequenzen die mangelnde Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden hätte haben können, belegt auch eine dritte Tatsache, die am Mittwoch bekannt wird. In dem abgebrannten Haus des Terror-Trios in Zwickau, wo Beate Z. bis zuletzt mit ihren beiden Komplizen lebte, fanden die Ermittler einen USB-Stick mit 88 Namen, darunter auch Politiker wie der Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag und der CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl. Offenbar standen beide und die anderen Namen im Visier der nationalsozialistischen Terroristen. Montag spricht am Mittwoch von einem "sehr beklemmenden Gefühl" und meint mit Galgenhumor: "Die wollten mir sicher keine Weihnachtsgrüße schicken." Und in der Datei, die inzwischen von den Experten des Bundeskriminalamts (BKA) ausgewertet worden ist, gab es offenbar auch Adressen türkischer und islamischer Organisationen. Ob es sich um Anschlagsziele oder um politische Gegner handelt, ist noch offen. Inzwischen wurden die Informationen an die einzelnen Landeskriminalämter weitergeleitet. Details sind bisher nicht bekannt.

In Baden-Württemberg, wo die NSU in der Vergangenheit jenseits des Attentats von Heilbronn bisher offenbar nicht in Erscheinung getreten war, zieht man inzwischen erste Konsequenzen aus der Entwicklung. Ein Sprecher von Innenminister Reinhold Gall (SPD) sagt am Mittwoch unserer Zeitung, spektakuläre und nicht aufgeklärte Kriminalfälle aus den vergangenen Jahren würden jetzt noch einmal dahingehend überprüft, ob es möglicherweise Verbindungen zur Terror-Zelle gab. "Aber bisher gibt es dafür keine Anhaltspunkte", so der Sprecher.

Auch auf Bundesebene will man offenbar schnell Konsequenzen ziehen. Schon am Freitag treffen sich die Innen- und Justizminister von Bund und Ländern zur Sonderkonferenz in Berlin. Dabei soll es vor dem Hintergrund der Neonazi-Mordserie an den acht Türken, einem Griechen und der Polizistin in Heilbronn auch um die Einrichtung einer sogenannten Verbunddatei gehen, sagte ein Sprecher von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in Berlin. Ähnlich der Anti-Terror-Datei mit gewaltbereiten Islamisten sollen darin Informationen zur rechten Szene gesammelt werden. Der Verfassungsschutz geht derzeit von rund 9500 gewaltbereiten Rechtsextremisten in Deutschland aus. Möglicherweise werden die Innenminister am Freitag auch über einen neuen Anlauf für ein NPD-Verbot beraten.

In Karlsruhe wird diese Debatte derzeit nur am Rand beobachtet, hier "laufen die Ermittlungen weiter auf Hochtouren", wie es heißt. Weitere Überraschungen scheinen nicht ausgeschlossen. Generalbundesanwalt Griesbaum, der heute die Geschäfte offiziell an den neuen Generalbundesanwalt Harald Range abgibt, jedenfalls räumt am Mittwochabend in der ARD ein, man habe in den vergangenen Jahren nicht feststellen können, "dass es in der rechtsextremen Szene terroristische Strukturen gibt".