Die Heidelberger Polizei war am Samstag schnell zur Stelle und konnte den Täter fassen. Foto: 7aktuell.de/Simon Adomat

Als ein Autofahrer in Heidelberg in eine Menschengruppe fährt, beobachtet ein 19-Jähriger das Geschehen aus der Bäckerei, schließt sich ein und alarmiert die Polizei. Am Tag danach ist er nicht alleine mit seiner Ratlosigkeit.

Heidelberg - Lars Beckmann soll eigentlich Brötchen verkaufen. Aber an diesem Sonntag ist der 19-Jährige aus Ladenburg „ein bisschen angespannt“. Kein Wunder. Am Tag zuvor hat der Aushilfsverkäufer von dem Kiosk der Bäckerei Grimminger am Heidelberger Bismarckplatz aus zugesehen, wie ein 35-Jähriger mit einem Auto drei Menschen angefahren und einen 73-Jährigen so schwer verwundet hat, dass er am Abend starb. Er hat gesehen, wie der 35-Jährige eine beigefarbene Kiste auf seinem Beifahrersitz öffnete und ein Messer herausnahm. Er sah ihn aus dem Wagen aussteigen und die Bergheimer Straße hinauf fliehen. Er hörte die Menschen panisch schreien. Lars Beckmann alarmierte die Polizei und sperrte sich im Laden ein. Abends machte er seine Zeugenaussage. Einen Reim machen kann er sich auf das, was er am Tag zuvor gesehen hat, aber nicht. „Dass das hier passiert!“, sagt er.

Der Abiturient, der auf 450-Euro-Basis am Bismarckplatz regelmäßig Brötchen verkauft, ist nicht alleine mit seiner Ratlosigkeit. Immer wieder kommen an diesem Sonntag Heidelberger zu der Stelle, an der am Tag zuvor das Auto in die Menge gefahren war. Eine junge Mutter und ihre kleine Tochter legen Blumen nieder. Andere zünden Kerzen an. „In den Gedanken sind wir bei den Opfern und deren Familien“, steht auf einem Zettel, den die Mannschaft des Cafés Cavaly schräg gegenüber zusammen mit zwei roten Herzluftballons aufgehängt hat. Ein Englisch sprechender Tourist filmt sich selbst vor der kleinen Gedenkstätte.

Ein Passant konnte sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen

Der Bismarckplatz ist neben dem Hauptbahnhof der wichtigste Knotenpunkt für den öffentlichen Personennahverkehr in Heidelberg und ein beliebter Treffpunkt. Dort fahren viele Busse und Straßenbahnen ab, dort ist immer was los. Auch am Samstag. „Das Erste, was ich wahrgenommen habe, war das schwarze Auto, das auf den Gehweg gefahren ist“, erzählt Beckmann. Ein Passant konnte sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen. Ein 32-Jähriger und seine 29-jährige Freundin erfasste das Auto zwar, verletzte die beiden aber nur leicht. Beide konnten das Krankenhaus am Sonntag wieder verlassen. Der ältere Herr aber sei voll erfasst und auf etwa zwei Meter Höhe gegen eine Betonsäule geschleudert worden, erzählt Lars Beckmann. Nur zwei, drei Meter weiter war dann die Fahrt des 35-jährigen Amokfahrers an der benachbarten Betonsäule zu Ende.

Gelbe Markierungen am Boden zeigen an, wo das Auto zum Stehen kam. „Einige Leute kamen den Verletzten zu Hilfe“, berichtet Beckmann. Der Fahrer des Wagens griff sich sein Messer und stieg aus. „Er machte nach dem Aufprall einen verwirrten und orientierungslosen Eindruck“, das ist dem 19-Jährigen noch aufgefallen. Er habe aber nicht den Eindruck gehabt, „dass er sich für das interessiert, was da gerade passiert ist“. Stattdessen floh er, erzählt Beckmann weiter, das Messer in der Hand. Einige Zeit später „fiel der Schuss“.

Bislang gibt es keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund

Die Heidelberger Polizei, die in einem kleinen Pavillon direkt neben der Bäckerei ein kleines Revier unterhält, stellte den Tatverdächtigen etwa 200 Meter weiter vor dem Alten Hallenbad. Der Mann sei mehrfach aufgefordert worden, die Waffe – ein handelsübliches Küchenmesser – aus der Hand zu legen, teilten die Staatsanwaltschaft Heidelberg und das Polizeipräsidium Mannheim am Sonntagnachmittag mit. Stattdessen sei er mit dem Messer in der Hand auf die Polizisten losgegangen. Die Beamten hätten Pfefferspray eingesetzt, allerdings ohne Erfolg. Ein Polizist schoss schließlich auf den 35-Jährigen. Er erlitt einen Bauchdurchschuss und wurde im Heidelberger Klinikum operiert, schwebt aber nicht in Lebensgefahr.

Polizei hält sich mit Angaben über den Mann zurück

Die Polizei hält sich noch zurück mit Angaben über den Mann. Es handle sich um einen deutschen Studenten, der in Heidelberg lebe, heißt es. Sein Tatmotiv sei unklar. Er habe zwar bereits vernommen werden können, habe aber keine Angaben gemacht. Es gebe bislang aber keine Hinweise auf einen extremistischen oder terroristischen Hintergrund. Untersucht werde nun auch, ob er zum Tatzeitpunkt eventuell vermindert schuldfähig gewesen sein könnte. Dafür gebe es allerdings bislang keine Anzeichen. Bekannt ist zudem, dass der 35-Jährige das Auto vor zwei Wochen in Heidelberg angemietet hat. Polizeibekannt war der Mann bisher nicht. Am Sonntag ist ihm ein Haftbefehl wegen des Verdachts auf Mord, versuchten Mord, versuchten Totschlag und gefährlicher Körperverletzung präsentiert worden. Ermittelt wird allerdings – wie es in diesen Fällen üblich ist – auch gegen den Polizisten, der geschossen hat.

Heidelbergs OB will den Fastnachtsumzug am Dienstag nicht absagen

Der Heidelberger Oberbürgermeister Eckart Würzner (parteilos) ist erschüttert. „Die Amokfahrt am Bismarckplatz ist für uns alle in Heidelberg schockierend und tragisch. Wir sind in Gedanken bei dem Todesopfer und seinen Angehörigen – ihnen gilt unser aufrichtiges Beileid“, erklärt er. Er bedankt sich ausdrücklich bei der Polizei und den aufmerksamen Augenzeugen, „sie haben alles richtig gemacht“. Weil es sich den bisherigen Erkenntnissen zufolge um eine Einzeltat handle, sieht der OB vorerst keinen Anlass, den großen Fastnachtsumzug am Dienstag abzusagen. Dabei werden 100 000 Zuschauer erwartet. Am Montag setzen sich Vertreter der Stadt, der Veranstalter und der Sicherheitsbehörden aber noch einmal zusammen, um das Sicherheitskonzept zu überprüfen, erklärt ein Sprecher der Stadt.

In Heidelberg-Ziegelhausen tanzen die Narren schon am Sonntag durch die Straßen, der Amokfahrt zum Trotz. Auch Isabelle Krys will dort hin, sie wartet am Bismarckplatz auf ihre Bahn. Die Grundschullehrerin ist als Biene verkleidet. Auch sie schaut an der Stelle vorbei, wo sie am Samstag selbst noch unterwegs war. „Sehr, sehr traurig“ sei das, sagt die 55-Jährige. „Aber es werden jetzt immer mehr solche Dinge passieren“, davon ist sie überzeugt. Damit werde man sich in ganz Deutschland auseinandersetzen müssen – und damit leben. Deshalb geht sie auch zum Umzug: Bangemachen, meint sie, gilt nicht.

„Man ist nirgendwo mehr sicher“, sagt die Geschäftsführerin des Cafes nebenan

Im Café Cavaly aber macht sich die Angst doch bemerkbar. Dort ist es für einen sonnigen Sonntag ungewöhnlich leer. Von der Attacke am Samstag, erzählt ein Kellner, hätten weder Mitarbeiter noch Gäste zunächst etwas mitbekommen. Erst als die Polizeifahrzeuge mit Blaulicht anrückten, habe man begonnen zu realisieren, was passiert sei. „Man ist nirgendwo mehr sicher“, sagt die Geschäftsführerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Lars Beckmann macht Feierabend, ihn zieht es nach Hause. Er habe sich am Samstagmorgen noch den Film „John Wick“ mit Keanu Reeves angeschaut, erzählt er noch. „Da werden auch Menschen mit dem Auto angefahren.“ Stunden später war das Ganze kein Film mehr, sondern Realität.