Vielstimmiger Monolog: Niels Bormann in „Der Kaufmann von Venedig“ Foto: David Baltzer / Bildbühne

Ein witziges Experiment und ein multimedialer Rückblick: Mit Nicolas Stemanns Inszenierung von Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ und Rabih Mroués „Ode To Joy“ hat Matthias Lilienthals Intendanz an den Münchner Kammerspielen begonnen.

München - Der Bürgersteig vor den Kammerspielen war nicht mehr passierbar, so drängten sich die Münchner am Wochenende vor dem Theater, um doch noch eine Karte zu bekommen und somit die Stücke zu sehen, denen Intendant Matthias Lilienthal die Saisoneröffnung anvertraute. Der Berliner, ein Schüler Frank Castorfs und Freund Christoph Schlingensiefs, löst seit diesem Herbst Johan Simons an der Maximilianstraße ab. Er gilt als Glücksfall für München.

Ist er es? Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, inszeniert von Nicolas Stemann, ist immerhin ein witziges Experiment. Klassiker-Premieren sind in München heiß geliebt, und diese hier versprach, eine Besonderheit zu werden. Was sie auch ist: In schönster Elfriede-Jelinek-Manier wird Shakespeares Text aufgefasert und auf die Darsteller verteilt. Jeder spricht mehrere Rollen, einen festen Shylock gibt es nicht. Nur Bassanio, seine Angebetete Portia und deren Dienerin Nerissa erhalten halbwegs konstante Gesichter. Dem zu folgen, in einem nicht von vornherein rollenlos angelegten Stück, ist jedoch kompliziert.

Die Monitore lenken ab, lassen aber starke Szenen entstehen

Monitore zeigen öfter an, an welcher Stelle des Stücks man sich gerade befindet und wer spricht, was die Aufmerksam stark fordert und vom Bühnengeschehen ablenkt. Nichtsdestotrotz entstehen dadurch starke Szenen. Eine ganz zentrale Rolle spielt bei Stemann etwa der Vertragsabschluss zwischen Antonio und Shylock. Wenn die Darsteller zunächst chaotisch versprengt den Dialog über 3000 Dukaten, die Bürgschaft und Antonios christlichen Hochmut wiedergeben, sich dann aber zum Chor vereinen, klärt sich die Sicht auf den Kern der Sache: die Zinsproblematik, die sich blutig durch die Historie der Menschheit zieht und die der globalisierten Welt mächtig zu schaffen macht. Zumindest beim ersten Mal.

Denn dieselbe Szene wiederholt sich und setzt kurz darauf, durch einen vielstimmigen Monolog Niels Bormanns, den „bösen Juden“ ins Zentrum. „Nachts kommen sie mit Messern und schneiden die Gedärme heraus“, fabelt er panisch, „sie reißen die Gedärme raus und trinken unsere Augen!“ Tiefliegende Ängste vor fremder Religion sind ein weiterer Blickwinkel, den die Jelinek-Methode aus Shakespeares Textkorpus heraushämmert.

Shakespeare funkelt wie nagelneu

Dieser hält übrigens stand. Die Geschichte bleibt spannend und funkelt an ihren Angelpunkten wie nagelneu. Insofern findet hier auch eine Verbeugung vor dem klassischen Genius statt. Taucht Portia auf, nimmt man dem „Kaufmann“ sogar wieder seinen Status als Komödie ab. Julia Riedler, neu im Kammerspiele-Ensemble, gibt die reiche und schlaue Erbin, die nur durch ein Ratespiel gewonnen werden kann, als postmodernes Up-to-date-Girl. Dieses Mädchen kennt alles, vermutlich ist es eine Meisterin der sozialen Netzwerke. „Überlegen Sie gut, ne“, fordert sie ihren Freier im Slang von Youtuberin Bibi Heinecke bei der Wahl des richtigen Kästchens auf. Ihre Mimik erspart Romane. Die kommende Saison mit Julia Riedler könnte aufregend werden.

So fällt der Blick im Lauf des Abends abwechselnd auf Juden, Araber und Schwule, mal mit Sprechchören, mal durch live gestreamte Szenen auf Monitoren, durch Videoeinspieler oder durch den warmen, supersicheren Jazzgesang von Nerissa Elena Kuljic. Sogar drei „Charlie Hebdo“-Titel kursieren, von denen jeder eine der großen Religionen karikiert. Ob sie lustig sind, bleibt offen.

Matthias Lilienthal sitzt in Reihe elf

„Auf dem Rechtsweg erlangt keiner die Seligkeit“, so viel ist bei aller politischen Bandbreite zuletzt immerhin sicher. Der transzendente Standpunkt behält die Oberhand, der materialistische wird in Shylocks Gestalt enteignet. Intendant Lilienthal verfolgt alles aus Reihe elf, in Jeans und losem Hemd, als Mann der Mittelschicht. Das Theater ist größer als er. Er lässt ihm Raum für Ideen, Themen, Versuche und Standpunkte.

Wie zum Beweis zeigt am folgenden Tag Rabih Mroués „Ode To Joy“ ebenfalls seltene Einsichten. Ein Stück über die Palästinensische Revolution (im Sinne der Gründung eines eigenen Staats) sollte es werden, stattdessen geriet es zum multimedialen Rückblick auf das Olympia-Attentat von 1972, verknüpft mit der surrealen Idee eines explodierenden Betts. Bemerkenswert an dem Stück sind vor allem die Recherchen, die Mroué und seine Bühnenpartnerin Manal Khader im Vorfeld führten. Die beiden ließen sich unter anderem die Verhörakten der überlebenden Terroristen schicken – und auch das vom Balkon der Conollystraße 31 geworfene Manifest mit der Liste der palästinensischen Gefangenen, die die Geiselnehmer freipressen wollten. Sie ist zu 80 Prozent unlesbar – weshalb die Gegenwart, wie so oft, auf Memoiren und Interpretationen angewiesen ist. In einem Mix aus Vortrag, Live-Streams, Videoeinspielern und Diashow führen Mroué und seine zwei Darstellerinnen vor, wie manipulierbar Zeitzeugnisse sind. Mal sieht das Publikum Mroué als Terrorführer live projiziert, mal zeitversetzt, mal verschwindet er ganz aus der Kulisse.

Die Versöhnung mit den Geistern der Vergangenheit

Auch die Klangstufen einer Explosion werden vorgeführt: In der Nähe klingt sie dumpf, in der Mitte laut, an einem bestimmten Punkt lautlos. Es kommt auf den Standpunkt an.

Doch für Mroué ist nicht die Entscheidung für den richtigen Standpunkt die Lösung, sondern die Versöhnung mit den Geistern der Vergangenheit. Das erfahren die Zuschauer bereits zu Beginn durch ein arabisches Märchen, in dem von Geistern heimgesuchte Dorfbewohner ihre Betten verbrennen. Auch Mroué und seine Darstellerinnen bringen zum Abschluss ein Bett zur Explosion. Und das lässt Gutes für die Münchner Kammerspiele hoffen. Nichts ist unmöglich, so abstrus, traditionell oder politisch unkorrekt es auch auf den ersten Blick aussieht. Was der Intellekt gebiert, darf sein bei Matthias Lilienthal.

„Der Kaufmann von Venedig“: nächste Aufführung am 15. Oktober; Tickets unter: www.muenchner.kammerspiele.de