Vor zehn Jahren ist Tobias in Weil im Schönbuch umgebracht worden - Täter ist nicht gefasst.

Weil im Schönbuch - Ein elfjähriger Junge wird erstochen und verstümmelt. Ein Jugendlicher wird als Tatverdächtiger verhaftet, später aber entlastet. Ein Jahrzehnt ist seit dem schrecklichen Geschehen vergangen, das einen ganzen Ort erschüttert hat. Und es ist noch immer gegenwärtig.

Die Schönbuchgemeinde hat auf ihrem Friedhof ein Kindergrabfeld angelegt. Jung, sehr jung Verstorbene ruhen hier. Gleich daneben, hat Bürgermeister Wolfgang Lahl im Rathaus erklärt, befindet sich das Grab von Tobias. Der neue Friedhof von Weil im Schönbuch ist groß, doch eine etwa 70 Jahre alte Frau hilft dem Suchenden auf die Frage nach dem Kindergrabfeld gerne. "Dahinten", sagt sie und fügt gleich hinzu: "Da liegt auch der Tobias. Er ist ermordet worden und man hat noch keinen Täter."

Es sind Worte, die genau das beschreiben, was die Menschen in dem 10.000-Einwohner-Ort im Kreis Böblingen noch heute bewegt. Ein Kind ist hier bestialisch umgebracht worden - und niemand weiß, von wem. "Es beschäftigt uns alle, dass der Mord nicht aufgeklärt ist", sagt Lahl. Der 41-jährige Rathauschef spricht von einer "völlig unvorstellbaren Tat". Und davon, dass "irgendwo auf der Welt einer herumläuft, der so etwas macht". Willi Dreher, der Vater von Tobias, hat einmal gesagt: "Nicht zu wissen, wer es war, belastet uns sehr."

Die Leiche von Tobias liegt hinter der Anglerhütte

Ein Jahrzehnt ist seit dem Mord vergangen. "Er ist kein Tagesthema mehr, aber man spürt, dass etwas da ist", meint Lahl. Er macht es fest an einem Bewusstsein, dass sich in Weil im Schönbuch entwickelt habe: "Viele Schülerinnen und Schüler gehen in Gruppen zur Schule. Sie sind von ihren Eltern konditioniert."

Tobias ist nicht auf dem Schulweg getötet worden. Er starb am Weiher des Fischereivereins Weil im Schönbuch. Das künstlich angelegte Gewässer zeigt sich an diesem Vormittag als Idylle mit Schilf, Seerosen und Sitzbänken. Der Nebel hat sich verzogen, die Sonne lacht. Der kleine See liegt im Gebiet Dörschach und ist für Ortsfremde nur schwer zu finden. Angler mögen die Ruhe. Nirgendwo ein Hinweisschild zum Weiher, keine dorthin führende Straße, die Navigationsgeräte kennen. Vor der Anglerhütte ist ein Grillplatz. Auf einem Schild steht "nicht öffentlich".

Weil im Schönbuch im Herbst 2000: Tobias radelt am Nachmittag wie so oft zum Angeln und Spielen an den See. Es ist der 30. Oktober, ein Montag und der erste Tag der Herbstferien. Diesmal aber kommt er nicht wie verabredet nach Hause. Es wird dunkel, die Eltern suchen ihn vergeblich und alarmieren schließlich die Polizei. Der Vater und eine Polizistin finden dann gegen 22 Uhr hinter der Anglerhütte die Leiche. Der Himmel weint, es regnet in Strömen.

40 Leute arbeiten anfangs am Fall Tobias

Es ist ein schwerer Schock für die ganze Gemeinde, die in jenem Jahr schon ein anderes grausames Verbrechen erschüttert hatte. Ein Mord in China zwar, begangen aber an einer Familie, die aus Weil im Schönbuch stammt und nach drei Jahren in der Ferne im Sommer 2000 in ihre Heimat zurückkehren wollte. Daimler-Manager Jürgen Pfrang (50), seine Frau Petra (39) und die Kinder Sandra (14) und Thorsten (12) sind in der Nacht zum 2. April 2000 in Nanking umgebracht worden.

Die Mörder - vier Bauern aus einem 270 Kilometer von Nanking entfernt gelegenen Dorf - waren noch am Tatort festgenommen worden. Die Pfrangs, so hieß es wenig später im Prozess vor dem Volksgericht in Nanking, seien zufällige Opfer von Einbrechern geworden. Die Männer im Alter von 18 bis 21 Jahren hätten die Familie in einem Amoklauf mit Melonenmessern getötet, nachdem sie beim Einbruch überrascht wurden. Die Täter wurden zum Tode verurteilt und im September 2000 hingerichtet.

Bei einer bewegenden Trauerfeier in der Martinskirche Weil im Schönbuch hatten im April über 1000 Menschen Abschied von der Familie genommen. Tobias wurde ein halbes Jahr später in aller Stille beigesetzt. Seine Eltern legten rote Rosen auf das Grab.

Der Mord an der Familie ist weit weg geschehen. Ist er deshalb, wie der Bürgermeister weiß, nicht so "verankert" bei den Weilemern wie der an Tobias? Wahrscheinlich. Er ist zudem abgeschlossen und hat so nur eine begrenzte Zeit die Aufmerksamkeit der Medien und Menschen gehabt. Bei Tobias aber kann allein die Ermittlungsgeschichte Zeitungsseiten und Magazinsendungen füllen.

Der Mörder von Tobias hat Ortskenntnisse

Die Böblinger Polizeidirektion richtet die Sonderkommission Weiher ein. 40 Leute arbeiten anfangs an der Aufklärung dieses Verbrechens. Soko-Chef ist Peter Kegreiß. Das Team scheint schnell Erfolg zu haben. Am 9. November wird ein 16-Jähriger aus dem Ort verhaftet. Er ist geistig zurückgeblieben, belastet sich selbst, widerruft aber. "Man kann mit ihm nicht normal sprechen", sagte ein Kripomann damals dieser Zeitung. Nach vier Wochen kommt der Jugendliche frei. Eine Blutspur hat ihn entlastet. Es ist die Spur, die für den zweitgrößten DNA-Abgleich in der deutschen Kriminalgeschichte sorgen wird.

Die Soko ordnet Blutflecke an Anorak, Hose und Unterhose von Tobias dem Täter zu. Das Blut stammt nicht vom 16-Jährigen, er gilt nicht mehr als dringend tatverdächtig. Doch der Mörder, davon sind die Ermittler überzeugt, hat Ortskenntnisse. Niemand kommt zufällig an den abgelegenen Weiher. Die Polizei setzt auf die DNA-Untersuchung. Bis April 2001 hat sie von 5550 männlichen Einwohnern ab zwölf Jahren Speichelproben genommen. Auch Männer aus einem Wohngebiet im nahen Dettenhausen (Kreis Tübingen) sind darunter. Im Mai folgen Massenerhebungen in Breitenstein und Neuweiler, den Teilorten von Weil im Schönbuch. Mitte Juni liegen 8400 Proben vor.

Auch andere Männer, die ins Visier der Ermittler geraten, wird der genetische Fingerabdruck abgenommen - damals und in den Jahren danach. Doch die Blutspur ist bis heute im Sand verlaufen. Eckhard Salo, ein Sprecher der Polizeidirektion Böblingen, zieht die aktuelle Bilanz: "Wir haben bis jetzt 12700 Speichelproben erhoben und ausgewertet. Alle waren negativ." Nur im niedersächsischen Cloppenburg hat es mit rund 18000 Tests jemals eine größere DNA-Untersuchung gegeben. Ronny Rieken, der Mädchenmörder, wurde so 1998 gefasst und überführt.

Kein hinreichender Tatverdacht - trotzdem schuldig?

Die Soko Weiher wird Ende 2001 aufgelöst. Mehrere Beamte kümmern sich aber weiter um den Fall. 2003 wird die Fahndungsgruppe auf elf Leute aufgestockt. Sie überprüfen die Ermittlungen, gehen alten und neuen Spuren nach. Doch auch sie finden nichts Entscheidendes. Nicht den dunklen Van, der am Mordtag in Tatortnähe gesehen wurde, nicht die zwei mutmaßlichen Russen im silberfarbenen Mercedes mit Böblinger Kennzeichen, die sich wenige Tage zuvor im Ort nach dem Fischweiher erkundigt hatten - und schon gar nicht den Killer, der 37-mal auf Tobias eingestochen und sein Geschlechtsteil entfernt hat.

Aber da war ja noch der 16-Jährige, der zwar aus der Untersuchungshaft freigekommen, aber gegen den das Ermittlungsverfahren damals nicht eingestellt worden war. Das hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart erst im Februar 2007 getan. Es gebe "keinen hinreichenden Tatverdacht, der die Anklageerhebung rechtfertigen würde", hieß es.

Doch es gibt Menschen, die ihn für den Mörder halten. Die Eltern von Tobias und ihr Anwalt Hans-Peter Schmitt gehören dazu: "Er hat Täterwissen", bekräftigte Schmitt am 28. September 2007. Es war der Tag, an dem Petra und Willi Dreher endgültig wussten, dass sich der jungen Mann nicht wegen Mordes an ihrem Sohn vor einem Gericht verantworten muss. Sie und ihre Anwälte hatten Beschwerde gegen die Einstellung eingelegt. Und, als die Generalstaatsanwaltschaft diese zurückgewiesen hatte, das Oberlandesgericht Stuttgart angerufen. Doch sie scheiterten im sogenannten Klageerzwingungsverfahren. Der 1. Strafsenat kam zu dem Schluss: "Der Beschuldigte ist als Täter oder Teilnehmer des Tötungsdelikts auszuschließen."

Zehn Jahre nach dem Mord an Tobias: Berge von Akten, keinen Täter

Die Polizei hat bis heute 19.300 Männer und Jugendliche überprüft. Sie hat 2224 Spuren und Hinweise abgearbeitet und dennoch nichts in der Hand. Zehn Jahre danach gibt es Berge von Akten - aber keinen Täter. "Der Fall ist präsent", sagt Salo. Ein Kripobeamter kümmere sich noch darum. Und am zehnten Todestag von Tobias, an diesem Samstag, will die Polizei noch einmal verstärkt in Weil im Schönbuch auftreten. "Falls uns jemand etwas sagen möchte." Es klingt wie ein Hilfeschrei. Auch wenn Salo betont, dass noch immer 18.000 Euro Belohnung ausgesetzt sind. Und dass es ein Hinweistelefon gibt: 07031/13-2222.

Tobias hat gerne am Weiher gespielt. Soko-Chef Peter Kegreiß soll, als er den Mörder suchte, ebenfalls häufig dort gewesen sein. Ein erfahrener, ruhiger und besonnener Ermittler, der 24 Jahre bei der Kripo Böblingen gearbeitet hatte, bevor er Ende 2002 als Fachlehrer für Psychologie an die Schule der Böblinger Bereitschaftspolizei wechselte. Auf eigenen Wunsch, wie damals ein Polizeisprecher betonte. Hauptkommissar Kegreiß hat sich im Frühjahr 2004 mit seiner Dienstpistole erschossen. Er wurde 46 Jahre alt und hinterließ Frau und zwei Kinder. Ob sein Freitod etwas mit dem ungeklärte Mordfall zu tun hatte, ist offen.

Weil im Schönbuch im Herbst 2010: Ein Ort, in den nach dem Schreckensjahr 2000 längst wieder der Alltag eingekehrt ist. Eine Gemeinde im Kreis Böblingen mit einer Kriminalstatistik, die sich von vergleichbaren Kommunen nicht unterscheidet. "Nichts Auffälliges davor und danach", sagt der Bürgermeister. Der Mord an dem elfjährigen Jungen ist kein Tagesgespräch mehr, doch er ist im Gedächtnis geblieben. "Tobi, wir werden Dich nie vergessen", haben seine Eltern auf den Grabstein gravieren lassen.